Die „Panama Papers“ widerlegen Platon. Die Daten, die das weltweite Steuerbetrugssystem belegen, stellen sein Höhlengleichnis auf den Kopf. Jenes Gleichnis, wo Gefangene in einer unterirdischen Höhle die Schatten an der Wand für die Wirklichkeit halten. Eine Unterwelt der Trugbilder – im Gegensatz zur Oberwelt im Licht der wahren Wirklichkeit, der Ideen. Panama-Leaks hat diese Anordnung verkehrt.
Die Schattenwelt ist heute die eigentliche Wirklichkeit. Während wir alle uns im vollen Tageslicht mit der vermeintlichen Realität von Begriffen wie Gleichheit und Gerechtigkeit herumschlagen, zeigt sich nun: Diese Realität ist ein Trugbild. Die wahre Realität ist jene der Schatten: die Schattenwirtschaft der Scheinfirmen, über die der große Geldfluss läuft. Dieses Schattenreich ist die neue Wirklichkeit.
Und wie Platons Höhlenmenschen den Ausgang nicht sehen, ja nichts von dessen Existenz wissen, so stecken wir alle fest in unserer hellen Wirklichkeit mit unseren Vorstellungen von Gesellschaft – während manche den Zugang zur Welt der Schatten, der Schattenfirmen haben. In der Antike wurden Menschen, die sich der Steuerverpflichtung entzogen, als Anachoreten bezeichnet – als Menschen, die die Gemeinschaft verlassen. Die heutigen Anachoreten sind jene, die einen Ausweg, einen Ausgang gefunden haben. Offshore heißt ihre Höhle – die Steueroase ist das neue Außen der gemeinsamen Welt.
Worin besteht dieses Außen? Es ist ein Außerhalb der Regeln. Unsere Gesellschaft basiert darauf, dass Regeln, dass Gesetze für alle in gleicher Weise gelten. Die heutigen Privilegien bestehen in dem Vorrecht, sich diesem Grundsatz zu entziehen. Regeln gelten nur für manche. Andere stellen sich außerhalb der Regeln – das ist das „Adelsvorrecht“ unserer Zeit. Diese Sonderstellungen untergraben das Fundament unseres Zusammenlebens. Sie erzeugen ein Gefühl von Ungleichheit – nicht alleine durch die Summen, um die es da geht. Sondern auch durch die Möglichkeit, anders mit den Regeln umzugehen.
Die Steueranachoreten kündigen nicht nur diese Gemeinsamkeit auf. Sie kündigen nicht nur die gesellschaftliche Solidarität auf. Sie kündigen auch die Vorstellung auf, man würde ein Rechtssystem, eine Welt teilen. Panama-Leaks hat gezeigt, dass wir in zwei Welten leben, in zwei Realitäten. Diese messen mit zweierlei Maß, was Regeln und Steuerpflichten anlangt. Und sie messen mit zweierlei Maß, was Geld, Wohlstand, Reichtum überhaupt bedeuten. Die unvorstellbare Maßlosigkeit, die da ans Licht gekommen ist, dieses neue Maß der Maßlosigkeit, gehört einer anderen Realität an, die sich nur in der Schattenwelt der Offshores entwickeln konnte.
Es ist dies eine „Sezession der Reichen“, so Pierre Rosanvallon. Sie verabschieden sich aus der gemeinsamen Welt. Ihr Aufkündigen des Gesellschaftsvertrages, ihr Aufkündigen noch der allgemeinsten Vorstellung von Gleichheit bedroht die gesamte Gesellschaft. Denn es erzeugt nicht nur Ungleichheit. Es erzeugt auch Frustration. Und Misstrauen. Es mögen weltweit nur einige sein, die die Panama Papers aufzeigen. Aber mit ihren bekannten Namen werden sie zu Symbolen, zu Symbolen dieser Sezession, dieses Separatismus – des Rückzugs ins Schattenreich. Das zersetzt die gesamte Gesellschaft.
Isolde Charim