Finanzmarkt- und Konzernmacht-Zeitalter der Plutokratie unterstützt von der Mediakratie in den Lobbykraturen der Geld-regiert-Regierungen in Europa, Innsbruck am 31.05.2016
Liebe® Blogleser_in,
Bewusstheit, Liebe und Friede sei mit uns allen und ein gesundes sinnerfülltes Leben wünsch ich ebenfalls.
Aus dieser Quelle zur weiteren Verbreitung entnommen: http://www.anerkennung-jetzt.de/faq
Matthias B. Lauer dazu:
Diesen Donnerstag stimmt der deutsche Bundestag über eine Resolution ab, in der erstmals der Genozid an den ArmenierInnen als Völkermord anerkannt werden soll. Im Vorfeld entfaltet die türkische Regierung, die ihr dienenden Verbände und das Graue Wölfe/Perincek-Milieu eine gigantische Lobbykampagne, um diesen Schritt zu verhindern. Die Anerkennung der historischen Wahrheit – einschließlich auch der deutschen Beteiligung am Völkermord – ist mehr als überfällig.
Gegen Vergessen. Für Anerkennung & Prävention!
Als einer der ersten Völkermorde des 20. Jahrhunderts wurde der Völkermord an den Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontosgriechen zum Vorläufer für darauf folgende Völkermorde und somit zum Prototyp moderner Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie sie fortgesetzt in Kambodscha, Ruanda, Darfur und während des Holocausts stattfanden und aktuell in Syrien erneut stattfinden!
Die Leugnung eines Völkermordes und die Straflosigkeit der Täter stellt einen Nährboden für weitere ethnische Säuberungen dar, die heute nach wie vor stattfinden! Einen Völkermord zu leugnen, heißt ihn weiterzuführen, da die Leugnung eines Völkermordes als dessen letzte Stufe angesehen wird. Folglich endet ein Völkermord erst mit der Anerkennung der Straftat seitens der Täter.
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Hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Völkermord an den Armeniern bestritten?
Nein.
Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) – bestehend aus 17 Richtern – hat am 15. Oktober 2015 final geurteilt, dass es für das Gericht im Fall Perinçek gegen die Schweiz nicht erforderlich sei zu bestimmen, ob die Massaker und Deportationen der Armenier ab 1915 im Osmanischen Reich als Völkermord zu charakterisieren sind. Zudem habe es keine Befugnis hierüber eine rechtlich bindende Bewertung abzugeben.
7 Richter, darunter EGMR-Präsident Dean Spielmann, gaben jedoch in einer abweichenden Erklärung an, dass es selbstverständlich ist, dass die Massaker und Deportationen der Armenier als Völkermord zu bezeichnen sind. Der Völkermord an den Armeniern, so die Richter, ist ein eindeutig festgestellter historischer Fakt.
Das EGMR-Urteil im original Wortlaut:
Hat eine Historikerkommission zur Bewertung der Ereignisse von 1915 stattgefunden?
Ja.
Nicht nur eine – gleich mehrere Historikerkommissionen haben bereits seit 2001 stattgefunden. Alle Kommissionen kamen zu dem gleichen Ergebnis: Es war Völkermord!
Dennoch fordert die Türkei immer wieder, obwohl mehrfach Kommissionen stattgefunden haben und ihre Ergebnisse bekannt sind, die Einberufung einer solchen Historikerkonferenz im Rahmen ihrer Leugnungskampagne und behauptet weiter, dass Armenien dies verhindern würde.
Jahr | Ort | Ergebnis | Nähere Infos |
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2001 | Genf | Es war Völkermord | Die Türkisch-armenische Versöhnungskommission (TARC) wurde gegründet und beauftragte das „International Center for Transitional Justice, ICTJ“ mit der Untersuchung der Anwendbarkeit der 1948 beschlossenen Genozidkonvention auf die Ereignisse von 1915. Am 4. Februar 2003 kam das ICTJ zu dem Urteil, dass die Ereignisse von 1915 alle Straftatbestände der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes erfüllen.(Quelle: ICTJ-Urteil, D. Conclusion, Seite 17) |
2005 | Istanbul | Wurde von der Türkei unterbunden | Eine Historikerkonferenz die Ende Mai 2005 in Istanbul stattfinden sollte, wurde von dem türkischen Justizminister Cemil Çiçek selbst unterbunden.(Quelle: F.A.Z., Konferenz über Mord an Armeniern verschoben, 25.05.2005) |
2015 | Berlin | Es war Völkermord | Eine internationale Historikerkonferenz mit 160 Historikern beschäftigte sich vom 1. bis 3. März 2015 mit den Ereignissen von 1915. Das Ergebnis: Die Mehrheit der in Berlin versammelten Historiker stuften die Vorgänge als Völkermord nach der entsprechenden UN-Konvention aus dem Jahr 1948 ein.(Quelle: Deutsche Welle, Deutschland und der Genozid, 04.03.2015) |
Hat Armenien auf den Brief von Erdogan bezüglich einer Kommission reagiert?
Ja.
Das WikiLeaks-Dokument 05YEREVAN769 zeigt auf, dass Robert Kotscharjan, der ehemalige Präsident Armeniens, am 25. April 2005 in einem Brief dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan antwortete und ihm mitteilte, dass eine intergouvernementale Kommission errichtet werden sollte, um alle noch offenen Fragen zwischen Armenien und der Türkei zu besprechen. Die Türkei behauptet bis heute, dass Armenien auf Erdogans Angebot vom 10. April 2005 nie reagiert habe.
(Quelle: WikiLeaks-Dokument 05YEREVAN769)
Sind die armenischen Archive geschlossen?
Nein.
Kemal Çiçek, ein Experte der „Türkisch historischen Gesellschaft“ (Türk Tarih Kurumu, TTK) bestätigte, dass die Archive in Armenien geöffnet sind und dass türkische Historiker und Forscher bereits in diesen Archiven gearbeitet haben, diese jedoch nur wenig Informationen zum Jahr 1915 enthalten, da die Republik Armenien zum Zeitpunkt des Völkermords noch gar nicht existierte. Die Behauptung der Türkei, Armeniens Archive seien geschlossen, ist somit unwahr.
Sind die türkischen Archive frei zugänglich?
Nein.
Von der Türkei werden die Osmanischen Archive als „frei zugänglich“ beworben. Jedoch werden Wissenschaftlern und Historikern, die in den Archiven in Bezug auf den Völkermord an den Armeniern arbeiten möchten, die Arbeit durch Restriktionen erschwert.
(Quelle: WikiLeaks-Dokument, 04ISTANBUL1074)
Das Europäische Parlament forderte die Türkei am 15. April 2015 dazu auf, die Gewährung des Zugangs zu den Archiven fortzusetzen.
(Quelle: Europäische Parlament, Armenien und Türkei sollen zu Normalisierung ihrer Beziehungen übergehen, 15.04.2015)
Wurden die türkischen Archive von belastenden Dokumente zum Völkermord gereinigt?
Sind die Malta-Prozesse aussagekräftig?
Nein.
Nach dem Ersten Weltkrieg gab es nur wenige internationale Vorschriften, die den Umgang mit Kriegsverbrechen regelten. Britische Militärgerichte waren nur für drei Straftaten (Verstoß gegen Waffenstillstandsbedingungen, Behinderung seines Vollzugs sowie Misshandlung britischer Kriegsgefangener) zuständig, und dies auch nur in den besetzten Gebieten, nicht in Malta. Alle anderen Straftaten, einschließlich der Verbrechen gegen die armenische Bevölkerung, fielen weitgehend in den Bereich des rechtlichen Niemandslands. Auf Malta gab es keine Völkermord-Anklage, weil die Verfahren nicht darauf ausgelegt waren. Giovanni Bonello, Richter des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, sagt, dass die türkischen Gefangenen im Jahr 1921 freigelassen wurden, da es aufgrund eines Vakuums im Völkerrecht keine rechtlichen Rahmenbedingungen gab, um Kriegsverbrecher strafrechtlich zu verfolgen. Daher gab es, entgegen türkischer Aussagen, keine wirklichen Prozesse in Malta. Die Freilassung der türkischen Gefangenen fand im Austausch gegen 22 britische Gefangene, die von Mustafa Kemal Atatürk festgehalten wurden, statt.
(Quellen: Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments, PLENUM – 13/4/2015, S. 2;
The Malta Independent, Turkey’s EU Minister, Judge Giovanni Bonello And the Armenian Genocide – ‘Claim about Malta Trials is nonsense’, 19. April 2012)
Mehr zum Thema: http://www.tagesspiegel.de/politik/massaker-an-armeniern-leugnen-wegen-der-staatsehre/5989510.html
Massaker an Armeniern
Leugnen wegen der Staatsehre
Kein anderes Thema bringt die die türkische Politik so in Rage wie die Massaker an Armeniern. Warum wehrt sich die moderne Türkei so heftig gegen den Vorwurf eines Völkermordes?
VON THOMAS SEIBERTImmer wenn die Armenierfrage auf der internationalen Bühne zum Thema wird wie derzeit in Frankreich, reagiert die Türkei mit Empörung und Sanktionsdrohungen. Kein anderes historisches Thema bringt die türkische Politik so in Rage wie die Ereignisse von 1915 bis 1917, als im untergehenden Osmanischen Reich mehrere Hunderttausend Armenier bei Massakern und Todesmärschen ums Leben kamen. Warum wehrt sich die moderne Türkei so heftig gegen den Vorwurf eines Völkermordes, der mehrere Jahre vor ihrer eigenen Gründung im Jahr 1923 verübt wurde? Die Sorge wegen möglicher Reparations- oder Gebietsansprüche der Armenier spielt dabei nur eine Nebenrolle. Viel wichtiger ist die Erschütterung der türkischen Staatsehre. Generationen von Türken sind mit dem Leitgedanken erzogen worden, dass ihr Land eine „historisch saubere Nation“ ist, wie es der deutsche Historiker Christoph K. Neumann einmal ausgedrückt hat. Das betrifft nicht nur den Staat von Mustafa Kemal Atatürk, der 1923 auf den Trümmern des Osmanischen Reiches gegründet wurde. Türkische Schulbücher lehren zudem, dass die Osmanen von Minderheiten wie den Armeniern von innen angegriffen wurden – etwa durch armenische Freischärler, die in Ostanatolien die anrückenden russischen Truppen unterstützten.
Der Vorwurf, die osmanische Regierung habe 1915 die Armenier als Volk auslöschen wollen, trifft deshalb gleich mehrere empfindliche Nerven der modernen Türkei. Einige Gründerväter der Republik waren im Ersten Weltkrieg in die Massaker an den Armeniern verwickelt. Mehrere Männer, die bei der Befreiung Anatoliens von der Besatzung der Weltkriegs-Siegermächte zwischen 1918 und 1923 mitwirkten, wurden als mutmaßliche Drahtzieher von Massakern gegen die Armenier gesucht. Wenn der moderne türkische Staat dies als Tatsache akzeptiert, bringt er die bisherige Vorstellung von der „sauberen“ Nation zum Einsturz. Das Armenier-Thema ist laut Neumann „eine Frage der türkischen Identität geworden“.
Ein Eingeständnis, dass die Osmanen wehrlose Menschen abschlachten ließen, nur weil es sich um Armenier handelte, ist für Ankara noch aus einem anderen Grund schwierig: Ein solcher Schritt würde die Osmanen, die von der offiziellen Geschichtsschreibung als Opfer innerer und äußerer Intrigen dargestellt werden, mit einem Schlag zu Tätern werden lassen. Auch das hätte weitreichende Folgen für das türkische Selbstverständnis.
Inzwischen gibt es in der Türkei etliche Wissenschaftler und Journalisten, die diese Zusammenhänge offen diskutieren und fordern, die Republik müsse den dunklen Kapiteln ihrer Geschichte ins Auge sehen. Bei anderen schlimmen Ereignissen, wie staatlichen Massakern an kurdischen Aleviten in den 30er Jahren, bei denen mehr als 10 000 Zivilisten starben, ist dies inzwischen geschehen: Ministerpräsident Erdogan entschuldigte sich kürzlich „im Namen des Staates“ für das begangene Unrecht.
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Aus dieser Quelle zur weiteren Verbreitung entnommen: http://www.sehepunkte.de/2007/03/10400.html
Der Völkermord an den Armeniern 1915/16: neueste Publikationen
Einführung
Der Erste Weltkrieg wurde früh und treffend als die „seminal catastrophe“ der Alten Welt – Europas, des Zarenreiches und der osmanischen Welt – bezeichnet. Die Katastrophe innerhalb der Katastrophe, die Vernichtung der osmanisch-armenischen Gemeinschaft in Kleinasien, organisiert durch ihren eigenen Staat im Kontext ethnoreligiöser Umgestaltung Kleinasiens: Sie kam in der Geschichtswissenschaft jahrzehntelang nicht richtig zur Sprache. Daran änderte nichts, dass Pioniere der Genozidstudien und internationaler Genozidächtung wie Raphael Lemkin den Armeniermord als zeitgeschichtliches Beispiel von Genozid anführten, ja Lemkins Lebenswerk durch diesen initiiert wurde, wie er in seiner Autobiografie schreibt.
1915/16 wurden die osmanischen Armenier zu Fuß oder per Eisenbahn aus ihrem jahrtausendealten Siedlungsgebiet „verschickt“ (so der Verwaltungsbegriff), nachdem zuvor Angehörige der armenischen Elite landesweit verhaftet worden waren. Männer und Burschen wurden in Ostanatolien meist zu Beginn der Verschickung getötet; dasselbe geschah mit den meisten, die Militärdienst taten. Anstatt, wie proklamiert, in Nordsyrien angesiedelt zu werden, gerieten Hunderttausende Überlebende der Verschickung in Konzentrationslager, die mangels Versorgung Sterbelager waren. Die dennoch Überlebenden wurden in einer finalen Aktion 1916 massakriert, soweit sie nicht zum Bruchteil jener gehörten, die frühzeitig weiter in den Süden gelangt oder in Aleppo untergetaucht waren. Die Türkei folgt bis heute der Diktion des jungtürkischen Kriegsregimes, das die Armenier als illoyale Minderheit, ihre Aussiedlung als militärische Notwendigkeit und die Opfer als bedauerlich, aber durch Krieg, Banditen und Mangel bedingt darstellte. Dabei minimierte es die Opferzahl und wies jede Verantwortung oder gar Türkisierungsintention von sich. Eine Vielzahl zeitgenössischer Quellen und Augenzeugenberichte spricht jedoch eine andere Sprache.
Vor dem Hintergrund der Genese des türkischen Nationalstaats und seiner Ideologie lässt sich unschwer nachvollziehen, weshalb sich die Historikerzunft in der Republik Türkei, dem Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, erst sehr spät und nur partiell, vor allem dank junger Privatuniversitäten, an eine offene Auseinandersetzung herantastet. Bemerkenswert bleibt, dass die deutschsprachige institutionalisierte Geschichtswissenschaft das Thema bis vor Kurzem nicht in ihr Verständnis des 20. Jahrhunderts zu integrieren, ja nicht einmal entsprechende Quelleneditionen zu erarbeiten vermochte, obwohl Deutschland als damaliger Kriegsverbündeter in seinen Archiven zentrale Quellen über den Armeniermord aufbewahrt. Doch auch dies ist nachvollziehbar: Die Auseinandersetzung mit der erdrückenden NS-Vergangenheit absorbierte die akademische Welt; die Erinnerung an den „Holocaust vor dem Holocaust“ (Elie Wiesel) und seine unabdingbare Einbindung in ein umfassendes Geschichtsverständnis blieben daher aufgeschoben.
Die Etablierung der Holocaust- und Genozidstudien, der globalhistorische Schub nach 1989, transnationale Vernetzung und postnationalistische Forschungsansätze, das starke Interesse an der Genese der postosmanischen Ordnung des Nahen Ostens sowie die intensivierte Europakandidatur der Türkei seit Ende der 90er-Jahre gehören zu den Faktoren, die das weithin vergessene Trauma in den letzten Jahren ins grelle Licht der internationalen Aufmerksamkeit gerückt haben. Medien, Diplomatie, Parlamente und Gerichte in verschiedenen Ländern sind inzwischen in vielfacher Weise mit der Problematik beschäftigt. Außenminister Gül bezeichnete kürzlich das „armenische Problem“ nach der Irakfrage als größte „Bedrohung“ für die Türkei (Tageszeitung Sabah vom 12.1.2007).
Der armenisch-türkisch Journalist Hrant Dink, der in einer Perspektive der Verständigung auf Ausleuchtung und Ächtung des Armeniermordes hingearbeitet hat, wurde am 19. Januar 2007 nach mehrfachen Drohungen als „Verleumder des Türkentums“ ermordet. Orhan Pamuk sagte Ende Januar wegen ähnlicher Drohungen eine Reise nach Deutschland ab. Zur speziellen Aktualität in Europa gehört die Frage, inwiefern die öffentliche Relativierung, Leugnung oder gar Rechtfertigung des Armeniermordes unter Türken in Europa, insbesondere durch türkeistämmige Parlamentsabgeordnete, geduldet werden kann. Ein Thema, über das offen und ehrlich zu reden es nach vielen Jahrzehnten höchste Zeit wurde, ist somit massiven politischen Kräften, von der internationalen Diplomatie bis hin zur Innenpolitik, ausgesetzt. Umso wichtiger ist die sachliche Diskussion jenseits politischer Instrumentalisierung, ob durch Gegner eines EU-Beitritts der Türkei, durch eine armenische Irredenta oder durch türkische Akteure, die sich einmal mehr als Opfer westlicher Verschwörung inszenieren, um dem historischen Gegenstand auszuweichen.
Allein in den letzten drei Jahren ist eine Reihe bedeutender wissenschaftliche Bücher zum Thema publiziert worden, die eine Vielfalt an Quellen, darunter auch bisher unzugängliche, erschlossen haben. Die vorliegende Sammelrezension konzentriert sich auf Beiträge mit wissenschaftlichem Anspruch, inklusive neuerer Quelleneditionen. Einbezogen worden sind auch einige wenige Publikationen, die der Vernichtung der Armenier 1915/16 den Charakter eines staatlichen Großverbrechens absprechen. Anzumerken ist, dass die Bezeichnung „Genozid“ selbst, die für ein Großverbrechen an einer ethnoreligiös definierten Gruppe steht, nicht die retroaktive Anwendung der UN-Konvention von 1948 und ihrer unverjährbaren Sanktionen impliziert. Allerdings mildert dies die für die politische Kultur in der Türkei und Europa so bedeutsame Frage nach der historischen Verantwortung von Staat und Gesellschaft nicht ab. Im Zentrum dieser Rezension stehen jedoch nicht diese, Politik und Diplomatie beschäftigende Fragen, sondern der wissenschaftliche Gehalt und Erkenntniswert der neuen Publikationen.
Historiografische Lebenswerke
Beginnen wir mit zwei fast gleichzeitig, aber unabhängig voneinander im Herbst 2006 publizierten Büchern. Beide sind Summe eines historischen Lebenswerkes, das in beiden Fällen den Umbrüchen vom Osmanischen Reich zum türkischen Nationalstaat gewidmet ist. Zentraler Forschungsgegenstand beider: der destruktive jungtürkische Umgang mit den Christen Kleinasiens, vor allem den Armeniern. Die Rede ist von dem Pariser Armenier Raymond Kévorkian und von dem Türken Taner Akçam, der in den USA lebt. Beide stimmen in grundsätzlichen Punkten überein: Es handelt sich bei dem, was den osmanischen Armeniern 1915/16 angetan wurde, um einen Genozid; er ist ideologisch eng an den türkischen Ethnonationalismus geknüpft; türkischer Ethnonationalismus wurde im Kontext der osmanischen Balkanverluste 1912/13 virulent und politikwirksam; aufgrund ihrer Genese und ihres landesweiten Ablaufs ist die Vernichtung der Armenier Kleinasiens keinesfalls auf Maßnahmen zur Wahrung der Sicherheit im Weltkrieg zu reduzieren oder als Ergebnis eines Bürgerkriegs zu begreifen.
Der an der Université Vincennes-Saint-Denis (Paris-VIII) lehrende Historiker Raymond Kévorkian legt mit seinem Werk „Le Génocide des Arméniens“ eine umfassende Gesamtdarstellung vor, die aus einem reichen Fundus von Quellen schöpft. Sie hat über tausend dicht bedruckte, aber stilistisch gut lesbare Seiten und ist in sechs Teile gegliedert, von denen der erste die gemeinsame Opposition von Armeniern und Jungtürken gegen den Sultan Abdulhamid II. in den Jahren 1895-1908 und der zweite die „Jungtürken und Armenier in der Probezeit der Macht (1908-1912)“ behandelt.
Eine besondere Stärke dieses Bandes, der in mancher Hinsicht auf Jahre den Standard bestimmen wird, liegt an der erstmaligen umfassenden Einbeziehung armenischer Quellen und Augenzeugenberichte. Die Perspektive der Opfer war wegen der türkischen Leugnungspropaganda lange zugunsten diplomatischer Quellen, die als objektiver galten, vernachlässigt, wichtige Einblick ins Geschehen waren damit ausgeblendet worden. Zu Kévorkians Quellen gehören auch brisante Nachkriegsbestände aus dem Istanbuler Patriarchat, die jetzt in Jerusalem lagern, darunter eine amtlich beglaubigte Kopie von General Vehip Paschas schriftlichem Zeugnis vom 5. Dezember 1918 für eine osmanische, post-jungtürkische Ermittlungskommission. Darin hielt dieser, der Oberkommandierende der 3. Armee, die in Ostanatolien stationiert war, unter anderem fest: „Die Deportationen der Armenier [1915/16] wurden im völligen Widerspruch zur Menschlichkeit, Zivilisation und behördlichen Ehre durchgeführt. Die Massaker und die Ausrottung der Armenier, der Raub und die Plünderung ihres Eigentums waren das Resultat von Entscheidungen, die vom Zentralkomitee des Komitees für Einheit und Fortschritt ausgingen.“
Diese armenischen Quellen kombiniert mit Dokumenten osmanischer und anderer Provenienzen ermöglichen es Kévorkian, in dichter, oft Schwindel erregender Weise die Interaktionen der Mitglieder des jungtürkischen Comité Union et Progrès (CUP) mit der Daschnak nachzuverfolgen. Die Daschnak war die wichtigste armenische Partei und trat für eine pluralistische, liberale Reform des Osmanischen Reichs, insbesondere für Sicherheit in den hauptsächlich von Kurden und Armeniern bewohnten Ostprovinzen ein; seit der jungtürkischen Revolution von 1908 unterhielt sie ein Wahlbündnis mit dem CUP. Der dritte Teil des Buches zeichnet die dramatischen zweieinhalb Jahre vom Balkankrieg bis zum Frühjahr 1915 nach: Aus einem ungleichen Paar von „Brüdern“ (so bisweilen ihre wechselseitige Anrede!) wurden Verfolger und tödlich Verfolgte, die aber noch fast bis zum Sommer 1915 Kontakt hielten und Verhandlungen führten.
Das Gerüst von Kévorkians Erzählung ist nicht neu: Das Wahlbündnis von CUP und Daschnak war seit der zweifelhaften Rolle des CUP während des antiarmenischen Massakers in Adana, 1909, Spannungen unterworfen. Kévorkian geht darauf in einem detaillierten Kapitel ein, das die gescheiterte staatliche und rechtliche Aufarbeitung des Massakers minutiös nachzeichnet (97-150). Eine wirkliche Entfremdung, wenn auch noch keinen definitiven Bruch – denn welche Alternative besaßen die Armenier? – brachten die Balkankriege. Die territorialen Verluste und muslimischen Flüchtlingsströme nach Anatolien verschärften schon vorhandene osmanische Ressentiments gegenüber anatolischen Christen, zumal diese in Bildung und Arbeitsleben Gewinner der osmanischen Modernisierung des 19. Jahrhunderts waren. Neu ist, dass Kévorkian gleichzeitig die internationale Diplomatie, die osmanische Zentralregierung, die Interaktion Daschnak – CUP sowie die Entwicklung in den Provinzen im Auge hat. Bisher kaum genutzte armenische Quellen belegen die prekäre Sicherheitslage in den Ostprovinzen und die zunehmende Furcht armenischer Führer, ihre ganze Gemeinschaft solle vernichtet werden.
Daher erging Ende 1912 der armenische Appell an die europäische Diplomatie, woraus Anfang 1914 der internationale Reformplan für die Ostprovinzen resultierte. Dessen Umsetzung sollten zwei Generalinspektoren aus neutralen Ländern vor Ort betreuen. Für die beiden Inspektoren, die im August 1914 eintrafen – aber von der Regierung „dank“ des Weltkrieges gleich wieder zurückgeschickt werden konnten -, ließ das armenisch-apostolische Patriarchat 1913/14 eine Volkszählung in seinen Gemeinden durchführen. Sie ergab eine Zahl von knapp zwei Millionen. Trotz einiger Mängel der Zählung hält Kévorkian sie für die mit Abstand zuverlässigste (338).
Das CUP legte den Armeniern den Rekurs auf europäische Mächte, und damit den Reformplan, als Verrat am nationalen Interesse zur Last, da er die nationale Souveränität beschnitten habe. Kévorkian zitiert ein Memorandum des osmanisch-armenischen Rates an den Großwesir, also den Regierungschef, vom Mai 1913. Darin beklagt sich der Rat, dass die Presse die Armenier für die osmanische Niederlage auf dem Balkan verantwortlich mache und offen mit ihrer Vernichtung drohe, damit ein für alle Mal die ausländische Einmischung aufhöre (196). Die Daschnak wie die armenische Elite insgesamt setzte auf Reform im osmanischen Rahmen, wie das ihre langjährige, durch das Bündnis mit dem CUP bekräftigte Politik war. Kévorkian stellt zudem heraus, dass auch die revolutionäre armenisch-sozialistische Partei Huntschak dem nicht generell entgegenstand, auch wenn im Huntschak-Kongress in Constanza, Rumänien, am 5. September 1913 der erneute Übergang zu revolutionärer Gewalt beschlossen wurde. 44 der 61 osmanischen Lokalkomitees nahmen daran nämlich nicht teil. Und auf dem Kongress der osmanischen Huntschak in Istanbul Ende Juli / Anfang August 1914 erklärten die 31 anwesenden Lokalkomiteevertreter den Kongress in Constanza für illegal (219, 320).
Kévorkian arbeitet konzis den während der Balkankriege hervortretenden Willen des CUP zu ethnoreligiöser Homogenisierung Kleinasiens als künftiger Wahlheimat des Türkentums heraus. Er macht deutlich, welche Bedrohung pluralistisch orientierte Gruppen im zunehmenden Türkismus in Kombination mit dem doktrinären Zentralismus des CUP erblickten. Er verficht die These, das CUP selbst, nicht die Opposition, wie in den meisten Geschichtsbüchern steht, habe im Juni 1913 den ihm unbequem gewordenen Großwesir Mahmud Pascha ermordet, um die im Januar begonnene CUP-Diktatur definitiv zu festigen (181). Bei einem späteren gewaltsamen Tod, demjenigen des seelisch aufgeriebenen amerikanischen Missionars Leslie 1915, scheint mir die Unterstellung, die Behörden hätten einen unbequemen Zeugen beseitigen wollen, allerdings eher unwahrscheinlich (768).
Der mit Abstand längste, mehr als 400-seitige vierte Teil befasst sich mit der ersten Phase des Genozids, der Phase der Massaker und „Verschickungen“ in Kleinasien 1915, auf die die im fünften Teil beschriebene zweiten Phase, die der Vernichtung der Überlebenden in den Wüstenlagern Nordsyriens 1916/17 folgte. Hervorstechender Vorzug des vierten Teils gegenüber bisherigen Gesamtdarstellungen ist die akribische komparative Beschreibung: Provinz um Provinz, Schritt um Schritt wird die systematische Zerstörung der armenischen Gemeinschaft in Kleinasien und Thrakien, deren zentrale Steuerung und lokale Implementierung, vorgeführt. Eine große Zahl von Akteuren, Tätern und Opfern, erscheint mit Namen und ist dank des Indexes gut auffindbar. Eine formale Kritik sei dennoch angebracht: Bei einem Buch dieses Umfanges können Leser die erste vollständige Nennung einer Quelle oder Veröffentlichung kaum finden, eine vollständige separate Bibliografie wäre daher angebracht gewesen, so ungern Verleger diese zusätzlichen Seiten auch einräumen. Dieselbe Kritik gilt für Akçams Buch.
Kévorkian unterscheidet die im Herbst 1914 beginnende Terrorisierung der Bevölkerung im Grenzgebiet zu Russland und dem Iran von der im April 1915 beginnenden landesweiten Zerstörung der Gemeinschaft. Er zitiert ein vielsagendes Telegramm von Tahsin, dem Vali (Provinzgouverneur) von Erzurum und ehemaligen Vali von Van vom Mai 1915, das davor warnt, „die Armenier durch Gewaltanwendung zur Revolte zu drängen“, um sie dann zu deportieren (289). Wie mehrere Dokumente aus jenen Wochen belegt dieses Telegramm orchestrierte Gewaltakte gegen die Armenier und verneint eine allgemeine Revolte derselben. Auf diesem Argument beruhte jedoch die zeitgenössische antiarmenische Propaganda, die sich insbesondere auf armenischen Widerstand in Van im April / Mai 1915 berief. Der Großwesir brachte dieses Argument sowie den armenischen Ruf nach internationalen Reformen von 1912 als Begründung der antiarmenischen Politik vor, als ihn der armenische Patriarch Zaven am 10. Juli 1915 auf die „Hinrichtung“ seines Volkes ansprach (668).
Innenminister Talat, Mitglied des CUP-Zentralkomitees, war die treibende Kraft der antiarmenischen Vernichtungspolitik. Balkanmuslim und türkistischer Wahlanatolier, betrachtete er auch unpolitische Armenier als potenziell separatistisch. Nach den Istanbuler Razzien gegen die Elite im April und im Juni machte er sich gegen den Widerstand von Kollegen, die internationale Reaktionen fürchteten, dafür stark, die armenische Bevölkerung auch aus der Hauptstadt zu entfernen. Er setzte sich teilweise durch. Dass die Armenier Istanbuls in toto verschont geblieben seien, ist eine Legende, die bis heute in den Medien kursiert, obwohl unter anderem deutsche diplomatische Dokumente dem eindeutig widersprechen (678).
Surrealität des Bösen: Der prominente osmanisch-armenische Schriftsteller, Jurist und Parlamentsabgeordnete Krikor Zohrab spielte am Abend des 1. Juni 1915 im Cercle d’Orient in Istanbul noch Karten mit Talat, dem Innenminister und Architekten des damals schon begonnenen Genozids. In einer stürmischen Unterredung wenige Stunden zuvor hatte er Talat aufgefordert, Rechenschaft abzulegen; in derselben Nacht wurde er verhaftet, verschleppt und schließlich ermordet (667). Ein weiteres Beispiel täuschender Nähe: Der armenisch-osmanische Offizier Hovhannes Aguinian soll den Kriegsminister und Oberbefehlshaber der Armee Enver Pascha Ende 1914 in kritischer Stunde im Inferno von Sarikamis auf dem Rücken tragend gerettet haben. Enver bezeugte in der Tat das damalige Heldentum armenischer Soldaten in einem an einen armenischen Geistlichen gerichteten Brief, der im Osmanischen Lloyd am 26.2.1915 veröffentlicht wurde. Über das völlige Fiasko seines Winterfeldzuges gegen Russland ließ Enver in der Öffentlichkeit den Mantel des Schweigens breiten (278).
Die Folgen von Sarikamis – schwierige Situation an der Ostfront, hohe Truppenverluste (darunter Aguinian) und Frustration der Führung – sind wichtige Elemente der Vorgeschichte zum Armeniermord. Als das CUP-Regime Ende März / Anfang April aber zum endgültigen Schlag gegen die Armenier ausholte, verbanden sich Rachegefühl und Euphorie. Denn aus dem Sieg in den Dardanellen vor Istanbul vom 18. März 1915, war das Hochgefühl eines „überaus brutalen Chauvinismus“ hervorgegangen, so General Pomiankowski, der österreichische Militärattaché und häufige Begleiter Envers. Kévorkian macht in diesem Zusammenhang mit Jay Winter darauf aufmerksam, dass seit dem ersten deutschen Giftgaseinsatz in Ypres im April 1915, allgemein das Bewusstsein entstand, man befinde sich in einem totalen Krieg (307).
Die Deportation der armenischen Bevölkerung aus Thrakien in die syrische Wüste im Oktober 1915 schloss, mit wenigen Ausnahmen, die erste Phase des Genozids, das heißt die Vertreibung und Massenraubmorde im Siedlungsgebiet der Betroffenen ab. Die Verschickungen aus Westanatolien erfolgten streckenweise per Eisenbahn und umfassten auch die Männer, die nicht zum Militär eingezogen waren. In Ostanatolien jedoch, wo die Verschickung der Bevölkerung nach einigen Vorläufern im Juni 1915 begonnen hatte, wurden Jünglinge und Männer meist vor oder zu Beginn der Verschickung massakriert. Dasselbe geschah mit den meisten in unbewaffnete Arbeiterbataillone eingeteilten Armeniern.
Die erste Phase des Genozids ruinierte die Wirtschaft Kleinasiens, insbesondere – bis heute – die Landwirtschaft im bergigen, klimatisch schwierigen Ostanatolien. Hier wurden jeweils kurz nach der Deportation Muslime angesiedelt, die oft aus dem Balkan stammten, und nicht die nötige Erfahrung besaßen, um die in der Mehrheit bäuerlichen, über Jahrtausende eingelebten Armenier zu ersetzen. Die (türkisch-muslimische) „Nationalisierung“ der Wirtschaft, der die Übernahme armenischen Raubguts diente, litt zudem unter massiver Korruption und privater Bereicherung. In diesem Zusammenhang kam es während des Kriegs zu Strafverfolgungen, allerdings nicht wegen Morden, Vergewaltigungen oder Versklavungen. Einzelne Ausnahmen gab es unter den Kommandanten Vehip Pascha und Cemal Pascha, dem Gouverneur von Syrien (765).
Der Autor setzt einen deutlichen Akzent, wenn er die Massaker syrischer Christen (in heutiger Selbstbezeichnung Aramäer oder Assyrer), namentlich in der Provinz Diarbekir, als einen vom Zentrum gewollten Genozid versteht. Er tut dies, obwohl ein Telegramm Talats vom 12. Juli 1915, das allerdings durch eine deutsche Intervention bedingt war, dem entgegenzustehen scheint: Es schrieb vor, die „disziplinarischen Maßnahmen“ auf die Armenier zu begrenzen (463).
Der Begriff „Zweite Phase“ des Genozids stammt von Kévorkian. Er legt im fünften Teil seines Buches eine Erweiterung bereits publizierter Befunde darüber vor (Revue d’Histoire Arménienne Contemporaine Bd. 2, 1998). Er schätzt die Zahl der bereits in Kleinasien Ermordeten auf 880.000, die Zahl der im Sommer oder Herbst 1915 lebend in Nordsyrien Angekommenen auf 800.000; 300.000 weitere kleinasiatische Armenier hätten fliehen oder vor Ort bleiben können (781).
Die zweite Phase war nicht Wiederansiedlung, wie es offiziell geheißen hatte, sondern Vernichtung durch Auszehrung in einem „Universum von Konzentrationslagern“ (826). Ansätze zur Integration der Flüchtlinge in und um nordsyrische Städte wurden planvoll zunichte gemacht, die letzten Überlebenden im Sommer 1916 massakriert. Nur wer in Aleppo untertauchen konnte oder zum Bruchteil jener gehörte, die in den Libanon oder nach Palästina weitergeleitet wurden, entging dem Vernichtungswillen. Die Konzentrationslager unterstanden dem örtlichen Verschickungsdirektorium, das dem Innenministerium zugeordnet war und mit der Spezialorganisation zusammenarbeitete. Weiter südlich war allein Cemal Pascha zuständig; im Unterschied zu Talat förderte er teilweise eine Wiederansiedlung der Verschickten, sie mussten sich allerdings im Sommer 1916 als Muslime eintragen lassen (841).
Kévorkian geht den Gründen für Cemals abweichendes Verhalten nach und setzt es in Verbindung mit seinen separaten Ansätzen zu Friedensverhandlungen. Innovative Akzente setzt Kévorkian auch im sechsten und letzten Teil, der sich vor allem mit den Prozessen gegen die jungtürkischen Kriegsverbrecher nach 1918, aber auch mit der Situation der im Lande verbliebenen Armenier und dem Patriarchat befasst. Zum Abschluss der Vernichtung armenischer Existenz in Kleinasien hatte die osmanische Regierung im Sommer 1916 das Patriarchat in Istanbul aufgehoben; doch nach dem Krieg beharrten die Siegermächte auf seiner Wiedereinrichtung. Zum Wiederaufbau der Gemeinschaft in Kleinasien konnte das Patriarchat wegen des Sieges der türkischen Nationalisten nicht beitragen, sehr wohl aber zu einer substanziellen Dokumentation des Geschehens, aus der Kévorkian für sein umfassendes Werk geschöpft hat.
Akçams Buch, gegenwärtig ein Top Seller unter englischsprachigen Türkeibüchern, ist die überarbeitete Fassung eines 1999 auf Türkisch erschienenen Buches, das seinerseits in Teilen auf seiner auf Deutsch verfassten Dissertation „Armenien und der Völkermord“ fußt (die kürzlich unverändert wieder aufgelegt wurde) und Teile seines Essaybands „From Empire to Republic: Turkish nationalism and the Armenian genocide“, London 2004, integriert [1]. Es richtet sich an ein internationales Publikum, ganz besonders aber, direkt und indirekt, an ein Bildungspublikum in und aus der Türkei.
Akçams Leistung ist es, eine solide, teils innovative Gesamtsicht des Geschehens mit der Erforschung der Gründe und fatalen Folgen gescheiterter juristischer und politischer Aufarbeitung bis heute zu verbinden. Damit beleuchtet er das zentrale Tabu des türkischen Nationalismus. Akçam ist der erste türkische Historiker, der seit Ende der 80er-Jahre dezidiert dieses Tabu benennt und erforscht. Er gehört zu einer seit den 90er-Jahren gewachsenen internationalen Gruppe von Wissenschaftlern, die sich von nationalgeschichtlichen Mustern abgewandt haben, denen Teile der Osmanistik und Türkeiwissenschaft noch bis in die jüngste Zeit verhaftet blieben.
Akçams Werk kommt an dasjenige von Kévorkian an Umfang und Reichtum der Fakten, Personen und Detailanalysen nicht heran; eine detaillierte Gesamtdarstellung vorzulegen ist aber auch nicht sein Anspruch, auch nicht die umfassende Einbeziehung aktueller Sekundärliteratur: Neben Kévorkians Arbeiten fehlen auch neuere deutsche Titel, was damit zusammenhängen mag, dass der Pionier Akçam in den 1990er-Jahren dem akademischen Deutschland den Rücken kehren und in die USA auswandern musste; heute lehrt er an der University of Minnesota.
Genese und Durchführung des Völkermords legt Akçam mit besonderer Berücksichtigung des Comité Union et Progrès, des türkischen Nationalismus und dessen folgenreicher Perzeption des europäischen Imperialismus dar. Wie Kévorkian schöpft er unter anderem aus der reichhaltigen Dokumentation, welche die versuchte, wenn auch gescheiterte juristische Aufarbeitung der Verbrechen nach 1918 hinterlassen hat („Istanbuler Prozesse“).
Akçam vertritt eine moralische Position: Massenmord ist auch dann zu ächten, wenn er scheinbar im höchsten Interesse von Staat und Nation verübt wird. Damit steht der Titel „A Shameful Act“ in Verbindung, der ein Diktum Mustafa Kemals aufnimmt. Dass der türkische Nationalismus es verpasst hat, sich zur expliziten Ächtung des Armeniermords im Ersten Weltkrieg durchzuringen, betrachtet Akçam als verheerend für die politische Kultur der türkischen Republik und ihre Menschenrechtsbilanz im ganzen 20. Jahrhundert.
Eine dritte, ebenfalls im Herbst 2006 erschienene umfangreiche Monografie ist diejenige des schwedischen Historikers und Holocaust-Forschers David Gaunt, der am Södertörn University College in Stockholm lehrt. Ihr Hauptgegenstand sind die syrischen Christen in ihrem Siedlungsgebiet in Südostanatolien, insbesondere Diyarbekir, und im Nordiran. Sie basiert auf einer im Team geleisteten Arbeit, die erst seit Kurzem zugängliche Quellen aus dem Militärarchiv in Ankara und Quellen des Innenministeriums im osmanischen Archiv in Istanbul verarbeitet. Konstruktive schwedisch-türkische Diplomatie hat den Zugang zu den Quellen erleichtert.
Mehrere der Militärquellen finden sich transkribiert und übersetzt im Anhang, der zusammen mit instruktiven „Notes on the sources“ zwei Fünftel des Buches ausmacht. Diesem geht ein achtzigseitiger Katalog der betroffenen aramäischen Dörfer mit je einer Kurzbeschreibung des Geschehens sowie ein substanzielles Kapitel über die Schlacht von Azakh voraus. Dieses Bergdorf verteidigte sich im Herbst 1915 erfolgreich gegen eine Übermacht osmanischer Truppen. Bezeichnend ist die Falschinformation in einem militärischen Telegramm vom 19. Oktober 1915, das aus den Aramäern Armenier machte und ihre Zahl übertrieb (453); erst ein Telegramm vom 28. November korrigierte den Fehler (491). Der deutsche Offizier Scheubner-Richter weigerte sich, bei der Repression mitzuwirken, die gemäss Envers Befehl „sofort und mit extremer Härte“ geschehen sollte. Scheubner-Richter fand, dass es sich um eine „nicht unberechtigte Verteidigung von Menschen handle, die dem Schicksal der meisten Armenier anheim zu fallen fürchteten“ (283, 313).
Gaunt nutzt die militärischen und weitere Quellen, darunter deutsche, russische und Interviews mit Überlebenden oder deren Nachfahren. Auf dichter Quellenbasis beschreibt er den expansionistischen osmanischen Feldzug nach Nordiran im Winter 1914/15. Er richtete sich bereits exterminatorisch gegen Christen und wurde für regionale Muslime als „Großer Dschihad“ propagiert (63). Aramäer und Armenier suchten daher Hilfe bei Russland und übten in der Reaktion ebenfalls Gewalt gegen muslimische Dörfer aus. „Diese ganze militärisch-politische Sinnlosigkeit [an der osmanischen Ostfront] habe ich nie so deutlich durchschaut wie auf dem Ritt über die halbverwehten Pfade unmittelbar vor der persischen Grenze“, schloss Paul Leverkühn, Scheubner-Richters Adjutant (149).
Etwas anders als Kévorkian schließt Gaunt, dass die antiaramäische Politik der Zentralregierung „unartikuliert und konfus“ geblieben sei, dass aber die „Provinz- und Lokalregierungen die Aramäer in derselben Weise wie die Armenier zur Zielscheibe nahmen“ – ohne die Zentralregierung zu informieren. Es handle sich auch in ihrem Fall um Genozid, aber ohne die umfassende Verschickung (188) und, wie zu ergänzen wäre, ohne die spezifische zweite Phase des armenischen Genozids. In Diyarbekir „sammelten sich die Anstifter zum [syrisch-christlichen] Genozid eher um eine provinzielle denn ministeriale Elite“; in deren Zentrum stand der CUP-Mitbegründer Vali Dr. Reschid, der sich schon bei der Stigmatisierung und Vertreibung griechisch-orthodoxer Osmanen 1913/14 hervorgetan hatte (313). Für den Holocaust-Forscher Gaunt funktionierten Reschids paramilitärische Kräfte „wie die Einsatzgruppen der Nazis, die Massenhinrichtungen unter Beihilfe lokaler Kräfte organisierten“ (314).
Dass die Aramäer als nichttürkische, nichtmuslimische Gruppe von Beginn an ein besonders bedrohter Teil im Rahmen einer umfassenden, Kleinasien ethnoreligiös homogenisierenden Umsiedlungspolitik waren, belegt ein Telegramm Talats vom 26. Oktober 1914: „Speziell die Nestorianer im Grenzgebiet zum Iran […] sollen aus ihren Siedlungsgebieten in geeignete Provinzen wie Ankara und Konya ausgestoßen und dort unter den Muslimen zerstreut werden“ (128, 447). Gaunts Arbeit belegt, wie aus Umsiedlungsplänen zu Kriegsbeginn binnen weniger Monate eine exterminatorische Praxis erwuchs. Sie ist ein substanzieller Beitrag zum Verständnis der Genese und des Ablaufs der Genozide an der osmanischen Ostfront.
Quelleneditionen
Ohne die Erschließung und Publikation zahlreicher Quellen wären die großen Fortschritte der jüngsten Forschung nicht möglich geworden. An erster Stelle sei auf die Arbeit von Wolfgang Gust, einem pensionierten Journalisten des „Spiegel“, und seiner Frau Sigrid Gust hingewiesen. Er hat der Wissenschaft und darüber hinaus der Ächtung von Genozid und politischer Unkultur einen vortrefflichen Dienst geleistet, indem er umfassend deutsche diplomatische Quellen erschlossen hat, und zwar sowohl im Internet (www.armenocide.de) als im Druck. In der Einleitung zur gedruckten Version, die eine umsichtige Auswahl aus der Internetpublikation darbietet, liefert Gust eine ausführliche Synthetisierung der Ereignisse auf deutscher Quellenbasis. [3]
Man mag gegen die These von der direkten deutschen Mitschuld einiges einwenden; in der Tat präsentiert sich die jungtürkische antichristliche Umsiedlungspolitik ebenso wie die Massakerpolitik als „endogen“. Man kommt aber nicht darum herum, über formale Befehlsstränge hinaus den gravierenden Einfluss deutscher Politik und des deutschen Militärs auszuloten: Sie bejahten auf oberster Ebene aus militärischen Gründen Deportationen aus den Ostprovinzen (456) und wagten nicht, sich wirksam entgegenzustemmen, als daraus alsbald eine Ausrottungspolitik wurde, die dem deutschen Botschafter spätestens Anfang Juli 1915 eindeutig bekannt war (185). Die Notiz des Reichskanzlers vom 17. Dezember 1915 spricht eine klare Sprache: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen“ (395).
Ohne das Zusammenwirken mit Deutschland hätte das CUP-Regime seine Ausrottungspolitik so nicht durchführen können. Das deutsch-türkische Kriegsbündnis, das Enver im Juli 1914 aktiv betrieb, verpflichtete das Osmanische Reich frühzeitig zur Kriegsteilnahme, erlaubte die Suspendierung des Reformplans und trug zur Gigantomanie der jugendlichen jungtürkischen Führer bei. Diese waren politisch und strategisch zwar nie Juniorpartner der Deutschen, ideologisch (im Sinne des Sozialdarwinismus) und psychologisch jedoch schon. Die Wirkung des Endsieg besessenen deutschen „Über-Ichs“ ist zu bedenken: Es half mit, das verhasste moralische „Über-Ich“ der amerikanisch-protestantischen Mission, die Colleges, Spitäler und respektierte Repräsentanten im ganzen Land besaß, zu überspielen. Das Kriegsbündnis des CUP-Regimes mit Deutschland trug dazu bei, den Dialog mit diesen seit Generationen ansässigen zivilen, menschenrechtlich standfesten Akteuren definitiv zu zerstören.
Verkümmerte Individualethik mancher deutscher Offiziere vor Ort manifestierte sich dem Oberlehrer in Aleppo Martin Niepage darin, dass „fatales Stillschweigen oder krampfhaftes Bemühen, das Thema zu wechseln, in ihren Kreisen eintraten, wenn ein lebhaft fühlender Deutscher mit selbständigem Urteil auf das fürchterliche Elend der Armenier zu sprechen kam“ (496). „Es ist falsch deutscherseits, wie es von Offizieren geäußert wurde, es komme auf das Leben tausender Armenier nicht an“, bemerkte Franz Günther, Generaldirektor des Bagdad-Eisenbahn-Gesellschaft (591). Neben einem solchen Partner verloren die CUP-Eliten die Hemmung, eine eigene Minderheit von Staatsangehörigen auszurotten. Zu diesem Tabubruch wären die wilhelminischen Eliten zweifellos (noch) nicht bereit gewesen. Ihr Versagen, im entscheidenden Moment Einspruch zu erheben, sollte sich als fatal für Deutschland erweisen.
Einblick ins Handeln eines deutschen Offiziers, der, anders als Scheubner-Richter, bei der Gewalt gegen die Armenier lustvoll, unüberlegt und im Stile eines Söldners mittat, gibt Hilmar Kaisers Edition der Briefe Graf Eberhard Wolffkeels von Reichenberg. Dieser war der einzige deutsche Offizier in osmanischer Uniform, teilte jedoch mit anderen, namentlich Envers Freund und Stellvertreter Bronsart von Schellendorf, Antisemitismus und antiarmenischen Rassismus (XV). Er war beteiligt an Operationen gegen armenische Selbstverteidigung in Zeytun, am Musa Dagh und in Urfa. Er durchschaute sehr wohl den antiarmenischen Lug und Betrug, unter anderem ein Telegramm, in dem es über die Situation in Zeytun hieß, „Christen hätten eine Moschee besetzt und angefangen die Moslims zu ermorden“ oder einen Offizier, „der sich friedlich und redlich von Erpressung nährte“ (45): Grundsätzliche Konsequenzen, zum Beispiel seinen Dienst zu quittieren, zog Wolffskeel daraus nicht, obwohl in Urfa deutschsprachige Missionare und Unternehmer ihm eindringlich die Situation darlegten. Über das spätere Schicksal Wolffskeels und seine Biografie im Allgemeinen liefert die Einleitung des Herausgebers wenig Informationen.
Ein ebenfalls deutsches, aber ganz anderes Dokument ist Harry Stürmers „Zwei Kriegsjahre in Konstantinopel: Skizzen deutsch-jungtürkischer Moral & Politik“. Es wurde erstmals 1917 in Lausanne herausgegeben, und auf Englisch im selben Jahr in London. Die englische Ausgabe ist in revidierter Form und mit einer instruktiven Einleitung, ebenfalls von Hilmar Kaiser, neu herausgegeben worden. Stürmers Buch war neben Johannes Lepsius‘ und Martin Niepages Veröffentlichungen und Karl Liebknechts Anfrage im Reichstag eines der wenigen, starken Zeugnisse deutschen ethischen Widerspruches gegen den Armeniermord.
Stürmer, Korrespondent der Kölnischen Zeitung in Istanbul, brach innerlich mit Deutschland, nachdem seine Frau die Schreie eines in einer Polizeiwache mitten in der Stadt gefolterten Armeniers gehört und einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Schon zuvor hatte er „täglich vom Balkon aus genügend Gelegenheit gehabt, die Gruppen unglücklicher armenischer Deportierter unter Gendarmerieeskorte“ zu verfolgen. Stürmer überschätzte den deutschen Einfluss auf die Jungtürken, wie Kaiser richtig betont. Er unterstreicht andererseits, wie hellsichtig Stürmer den Armeniermord als Teil einer türkistischen demografischen und ökonomischen Umgestaltung Anatoliens erkannte. Da ihn der Lobpreis auf diese Türkismuspolitik aus der Feder jüdischer, wie das CUP aus Saloniki stammender Journalisten der Zeitung Hilal empörte, schloss Stürmer fälschlich, die kleine jüdisch-osmanische Gemeinschaft sei insgesamt Profiteurin des Genozids (13 f.).
Erstmals aus dem Familiennachlass herausgegeben und mit einem Kommentar versehen, wiederum von Hilmar Kaiser, wurden die Memoiren des US-Botschafters in Istanbul, Abram Elkus, dem Nachfolger von Henry Morgenthau, 1916/17. Wie dieser, der sich energisch für die Armenier eingesetzt hatte, betrachtete Elkus die jungtürkischen Führer als „strong jingoists. Their ideal was Turkey for Turks and the suppression, if possible, of all other races and nationalities in Turkey“ (63). Dies war für den US-Botschafter der Hauptgrund der Massengewalt, die während seiner Amtszeit als zweite Phase des Genozids weiterging: „Turkish officials have now adopted and are executing the unchecked policy of extermination through starvation, exhaustion, and brutality of treatment hardly surpassed even in Turkish history“, so Elkus in einem Telegramm vom 17. Oktober 1916 (119).
Elkus unterstützte den Fluss amerikanischer Gelder des von Missionaren getragenen Near East Relief unter anderem nach Aleppo. Von hier brachte ein illegales Netzwerk mit lokalen Helfern, unter Leitung der Schweizerin Beatrice Rohner, Hilfe in die Konzentrationslager. Über den US-Konsul in Aleppo erhielt der Botschafter Informationen aus erster Hand. Mit dem Abbruch der Beziehungen im April 1917 musste Elkus die Koffer packen und, Kaiser zufolge, besonders heikle Teile seines Archivs zerstören (116). Insgesamt geben diese Memoiren einige interessante Einblicke, auch in das unangenehm berührende, nahe Verhältnis des Ehepaars Elkus mit Talat und seinem Intimfreund Cavid; sie brillieren aber nicht durch eine substanzielle Dokumentation oder vertiefte Analysen. Elkus gab mit seiner Antrittsrede, die die „immerdar exzellenten Beziehungen zwischen Osmanischem Reich und den USA“ rühmte, ein besonders starkes Beispiel unter vielen von diplomatischer Beschönigung im 20. Jahrhundert (56).
Mit den traumatischen türkisch-amerikanischen Beziehungen der Jahre ab 1915 befasst sich Merrill Peterson, emeritierter Geschichtsprofessor der University of Virginia. Familiäre Reminiszenzen an amerikanische Armenierhilfe – „starving Armenians!“ – und die Beschäftigung mit dem Holocaust haben ihn spät an das tief in der amerikanischen Seele eingeprägte, aber jahrzehntelang verschüttete Thema Armenien herangeführt. Er setzt sich damit auf der Basis englischsprachiger Sekundärliteratur sowie der Archivalien der wichtigsten amerikanischen Überseemission auseinander. Diese erkor im frühen 19. Jahrhundert die Bibellande, das heißt die Osmanische Welt, zu ihrem wichtigsten Wirkungsgebiet, und zwar erst hauptsächlich Palästina, dann Kleinasien. Ihre auf zahlreichen Stationen verteilten Mitglieder haben detaillierte Berichte über den Armeniermord verfasst; sie haben miterleben müssen, wie im Ersten Weltkrieg die Träger und Früchte einer privilegierten amerikanisch-armenischen Wahlverwandtschaft seit den 1830er-Jahren brutal zerstört wurden.
Merrills Zusammenfassung des Traumas und der amerikanischen humanitären und politischen Reaktionen auf das Trauma ist lesenswert, zumal zahlreiche Quellenzitate sie lebendig machen. Die Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg stimmt ihn bedenklich: „The Jewish homeland would eventually become the state of Israel, and the historian observing its fate cannot help pausing over the utterly different fate of Armenia“ (82); „Great Betrayal“ bezeichnet er das amerikanische Vergessen der Armenier, das nach dem Vertrag von Lausanne von 1923 einsetzte. Allerdings analysiert Merrill die Bedeutung Armeniens und Israels in der amerikanischen (Heils-)Geschichte und in ihrem, dank Überseemission und puritanisch-millenaristischem Erbe besonderen Verhältnis zum Nahen Osten nicht. Im letzten Kapitel bringt er instruktive Einblicke in Entstehung und Entwicklung der armenischen Diaspora in den USA, der größten weltweit.
Zeugnisse von Überlebenden wurden jahrzehntelang unter dem Druck der türkischen Leugnungspropaganda als „weiche Quellen“ in der Debatte kaum beachtet, obwohl sie ganz unentbehrliche Einblicke in das konkrete Geschehen geben. Einige Manuskripte oder frühere Publikationen sind erst jüngst aus dem Armenischen übersetzt und für ein internationales Publikum veröffentlicht worden. So Vahram Dadrians Tagebuch, das sich vom 11. Mai 1915 – Vahram war damals 15 – bis 26. Juni 1919 erstreckt. Es ist vom literarisch ehrgeizigen Autor danach stilistisch überarbeitet worden; das Original ist nicht mehr greifbar. Dennoch zweifeln Kenner der Verhältnisse nicht an der weitestgehenden Authentizität der Aufzeichnungen.
Vahrams Vater war ein wohlhabender Händler in der Stadt Çorum nordöstlich von Ankara, hatte einflussreiche türkische Freunde und gehörte keiner politischen Partei an (10). Auch er wurde im Mai 1915 verhaftet, kam aber nach drei Wochen frei. Solange man nicht mit Hardlinern konfrontiert war, fungierte Geld als das wichtigste Mittel, um mittels Bestechung Erleichterungen, im besten Fall das Überleben zu sichern. Vahrams Tagebuch zeigt dies mit aller Deutlichkeit für die ganze Zeit der Verfolgung.
In seinem Eintrag vom 19. Juli 1915 realisierten der Jüngling und seine Familie, dass es kein Entkommen gab, dass alle von der Verschickung betroffen waren und dass dies meist den Tod bedeutete (16). Am 29. Juli mussten sie mit den übrigen Armeniern Çorums aufbrechen. Die Route führte zu Fuß und mit Pferdegespannen Richtung Süden nach Tarsus, von dort nach Aleppo. Auf dem ersten Teil der Reise waren sie besonders gefährdet, Massakern zum Opfer zu fallen. Dank des Gouverneurs von Çorum, der den begleitenden Sicherheitskräften den Schutz der Verschickten eingeschärft habe, und dank reichlicher Bestechung, sei es, anders als bei den übrigen Konvois der Region, nicht zum Massenmord gekommen. Dennoch starben manche an Erschöpfung oder bei einzelnen Überfällen. Vielerorts waren die Verschickten dem Hass und den Beschimpfungen von irregulären Truppen oder Teilen der Bevölkerung ausgesetzt.
Entscheidend für das schließliche Überleben der Familie war jedoch, dass sie sich in Aleppo mittels Beziehungen und Bestechung vom Gros der in Norsyrien Todgeweihten absondern und, wie insgesamt 130.000 Armenier, weiter nach Damaskus und darüber hinaus befördern lassen konnte. Dort war das Überleben noch schwierig genug. Der Status mancher glich demjenigen von Sklaven (125). Formal mussten sie zum Islam konvertieren (164 f.). Aber Vahram und seine Familie wurden als Einwohner von Jeresh (heute Nordjordanien) registriert und waren keinem behördlichen Vernichtungswillen mehr ausgesetzt. Vahrams Vater jedoch und viele andere starben an Typhus. Geldüberweisungen eines Freundes in Istanbul halfen dem Rest der Familie, zu überleben. Ebenfalls angeschriebene türkische Freunde in Çorum ließen sie im Stich und rückten das Geld, das ihnen in der Stunde der Not anvertraut worden war, nicht mehr heraus. Einen besonderen Wert gewinnt das Tagebuch dadurch, dass Vahram in Jeresh Erzählungen von Überlebenden gesammelt hat. Verblüffend auch, wie rasch die Informationen flossen: Im Herbst 1916 wussten die Armenier in Jeresh, dass die letzten Überlebenden bei Der Zor massakriert worden waren (166, 170).
Die Erinnerungen (= armenisch „Housher“) der 1908 geborenen Euphronia Halebian Meymerian geben Einblick in den Sonderfall eines armenischen Offiziers in der osmanischen Armee und laden zu vorsichtigen Vergleichen mit „Hitler’s Jewish Soldiers“ [3] ein. Anders als die übrigen Armenier Aintabs (heute Gaziantep), blieb die Familie des Offiziers Setrak Halebian (damals Haleblian) protegiert. Als Textilfachmann war ihm zu Beginn des Krieges angetragen worden, im Rang eines Offiziers eine Uniformfabrik in der Stadt aufzubauen. Das gab ihm 1915 auch die Möglichkeit, einige wenige Armenier durch eine Anstellung zu retten und deportierte Frauen im Haus zu verstecken.
Dennoch wurde die Atmosphäre in der Stadt für die Familie 1916 unerträglich; Offizierskollegen brüsteten sich, dass kein Armenier in Anatolien übriggeblieben und somit die armenische Frage gelöst sei. Setrak solle jetzt auch konvertieren, sich an ihren (türkistischen) Clubtreffen beteiligen und lebenslang dem türkischen Staat dienen. Einladungen zu entsprechenden Versammlungen von Frauen ergingen auch an seine Gattin (10). Anders als bei „halbjüdischen“ Soldaten in der Wehrmacht, galt es nicht, einen rassischen Schein („Deutschblütigkeitserklärung“) zu erlangen, sondern – in diesem Fall – sich ethnoreligiös als Türke zu sozialisieren.
Die Halebians entschlossen sich zur Flucht und konnten mit Hilfe eines zuverlässigen türkischen Karawanenführers Ende 1916 in Aleppo untertauchen; hier war die finale Kampagne gegen die Armenier bereits vorüber. Das Buch erzählt die kurze Rückkehr in die Heimatstadt 1919, die erneute Flucht, diesmal in den Libanon und den Kampf der jungen Flüchtlingsfrau Euphronia im Libanon um Bildung und eine selbständige Existenz – ein Kampf auch gegen patriarchalische Bräuche in armenischen Familien. Hilfreich dabei und überhaupt fürs Überleben waren amerikanische Missionarinnen und deren Institutionen, insbesondere die American University of Beyrouth. Früh verwitwet, arbeitete Euphronia Halebian Meymerian dort jahrelang als Lehrerin und emigrierte schließlich in die USA.
Varteres Mikael Garougians (1892-1958) aus dem Armenischen übersetzte, mit Fußnoten und einem Register versehene Autobiografie ist in mehrfacher Hinsicht aussagekräftig: Sie gibt Einblicke in eine armenische Dorffamilie; in die Légion Arménienne, der sich der Autor 1917 anschloss; in das Schicksal der 1919 nach Anatolien zurückgekehrten oder dort verbliebenen Armenier; und in die armenische Diaspora in den USA und das Denken eines Arbeiters, der nach seiner definitiven Emigration 45 Jahre in einer Eisenfabrik in Wisconsin angestellt war. Als begabter Beobachter und Schreiber betätigte sich Varteres früh gelegentlich als Journalist.
Im Vorwort zu seinem zu seinen Lebzeiten nie veröffentlichten armenischen Manuskript schrieb Garougians 1957, er berichte fast vergessene Ereignisse im Blick auf „Tage, die erst noch kommen würden“ (XV und nochmals 211). Auch europäische Zeitgenossen gingen schon in der Zwischenkriegszeit davon aus, dass man erst in einer künftigen Epoche, volles Licht auf den Armeniermord werfen werde können; in den 50er-Jahren, zur Zeit des bündnispolitischen Honigmondes von USA und Türkei, lag diese Epoche in utopischer Ferne. Vieles deutet darauf hin, dass sie mit dem Ende des Kalten Kriegs gekommen ist.
Varteres wurde im armenischen Dorf Khoulakyough (Hulaköy) westlich des heutigen Elazig in Ostanatolien geboren. Amerikanische Missionare hatten dort ein College aufgebaut, das der Jüngling gerne besucht hätte. Doch beschloss die Familie seine frühe Heirat. Danach reiste er als Arbeitsmigrant in die USA, um dem Militärdienst zu entgehen, den seit 1908 auch Nichtmuslime zu absolvieren hatten. In der Fremde erfuhr er vom Ausbruch des Weltkriegs. Die antiarmenische Repression habe auch sein Heimatdorf und seine Familie getroffen, seine Frau habe vielleicht während der Verschickung in einem Dorf bei Urfa untertauchen können, berichteten ihm armenische Freunde.
Der junge Mann war schockiert, aber auch von Schuldgefühlen geplagt. Er entschloss sich, in den Kriegsdienst gegen die Türkei einzutreten; er begab sich nach Marseille, um sich der französischen Légion arménienne anzuschließen. Mit ihr gelangte er nach Kilikien und drang bis nach Aintab vor. Dann erhielt er Urlaub, denn er hatte erfahren, dass der Schweizer Spitalleiter Jakob Künzler aus Urfa seine Frau Manan in einem Dorf entdeckt hatte (Varteres spricht ungenau vom deutschen Missionar Mr. Yahkoub, 33). Er traf sie nach langen Jahren der Trennung, reiste aber noch in sein Heimatdorf bei Harput. Dort wurde er verhaftet und schließlich in die Rekrutenschule eingezogen. Er konnte aber schließlich auf sehr unsicheren Wegen via Urfa aus der kemalistischen Türkei fliehen, um in „the Land of Hope“ (272), die USA, zurückzukehren.
Dieses Buch verblüfft durch originelle, ideologisch wenig modellierte Beobachtungen und Empfindungen, die sich auf zeitgenössische Briefe und Notizen stützen bzw. diese zitieren. Eindrücklich etwa ist seine Schilderung einer Gerichtsszene in Urfa, in der ein Mädchen aus Khoulakyough, das in Urfa von einem Türken geheiratet und damit gerettet worden war, hartnäckig beteuerte, sie sei Muslimin, habe nichts mit „dreckigen Ungläubigen“ zu tun und kenne die anwesenden Bewohner ihres Heimatdorfes nicht (48). Oder ein alter Bekannter in Elazig 1920 im Gespräch über armenisches Verhalten vor 1915: „Auch wir haben uns Schuld zuzuschreiben“, sagte er, „es gab viele Dinge, die wir nicht hätten publik machen sollen. Wir hätten zwar schlau wie die Schlangen, aber auch schlicht und einfältig wie Tauben sein sollen“ (101). [4]
„Disputed Genocide“
Das Buch von Justin McCarthy, Esat Arslan, Cemalettin Taskiran und Ömer Turan befasst sich mit der Provinz Van, die nördlich bzw. östlich an David Gaunts Untersuchungsgebiet anschließt. Es basiert zur Hauptsache auf britischen Konsularberichten und Dokumenten der osmanischen Armee und Verwaltung. Sporadisch stützt es sich auf weitere Quellen, u. a. amerikanische Missionarsquellen, nicht jedoch auf deutsche Zivil-, Militär- und Missionarsquellen (es gab in Van eine deutsche Mission mit Außenstationen in den Dörfern). Entsprechend der Quellenbasis legt das Autorenteam Wert auf strategische Überlegungen und hält treffend fest, dass Envers expansiver antirussischer Traum zum Debakel bei Sarikamis und damit zu den prekären Verhältnissen an der Ostfront führte. Denn vom militärischen Kräfteverhältnis her hätte eine solide Defensivtaktik beste Erfolgsaussichten gehabt (178, 218).
Allerdings bleibt das Team dieser Grundüberlegung insofern nicht treu, als es die fast zeitgleichen gescheiterten Vorstöße in den Nordiran nicht auch als Verzettelung der Kräfte und Faktor der Prekarisierung und Brutalisierung der Ostfront begreift. Es geht im Gegenteil so weit, der „armenischen Rebellion in Van“ eine Mitschuld am Scheitern des Nordiranfeldzugs zu geben, der derselben expansiven Strategie gehorchte (212). Kommandiert wurden die Vorstöße in den Nordiran von Cevdet und Halil, beides Familienangehörige Envers. Die Daschnak hatte auf ihrem Kongress im August 1914 das Ansinnen des CUP, sich guerillamäßig am Ausgreifen nach Osten zu beteiligen, zurückgewiesen. Die türkistische / pantürkistische Wende in der Politik des CUP und ihre Konsequenzen sind für das Autorenteam kein Thema; das daraus resultierende Scheitern armenischer Loyalität gegenüber dem CUP-Regime bleibt unangesprochen.
Im Bezug auf den Daschnak-Kongress zitieren die Autoren ein Militärdokument über „Geheimbeschlüsse“ der Daschnak, darunter derjenige, im Kriegsfall „programmierte Operationen hinter der Front“ durchzuführen. Leider datieren sie weder an dieser noch an vielen anderen Stellen die herangezogene Quelle. Tatsächlich handelt es sich in diesem Fall um ein schon vielfach, kürzlich auch in einem Militärquellenband abgedrucktes undatiertes Dokument, das vermutlich erst im August 1915, zur Rechtfertigung ex post, verfasst wurde. [5] Solche Quellen als „bloße Berichterstattung“, ihre Terminologie als „kühl und technisch“ und die ganze Quellengattung daher als besonders vertrauenswürdig zu bezeichnen (201), klingt naiv. Anders als die Autoren in derselben Passage meinen, war tatsächlich die versuchte Vergewaltigung einer Armenierin der Auslöser zum offenen Kampf in Van: Es geschah am 20. April 1915 vor dem deutschen Waisenhaus, und es handelte sich um eine ehemalige Schülerin der deutschen Missionarin Käte Ehrhold. Deren Bericht figuriert nicht in dieser Studie.
Das Buch will die These einer lange vorbereiteten allgemeinen „armenischen Rebellion“ vom Beispiel Van her beweisen. Der Begriff der „armenischen Rebellion“ wird durchgehend und inflationär gebraucht. Damit suggerieren die Autoren, der Vernichtung der Armenier Kleinasiens sei ihre landesweite Erhebung vorausgegangen. Diese Suggestion schließt an zeitgenössische CUP-Propaganda an. Viele glaubwürdige Zeugnisse, auch Quellen im erwähnten Militärquellenband, stehen ihr entgegen.
Die Provinz Van war als Grenzregion indes ein Sonderfall. Bewaffnete armenische Kräfte, namentlich der Daschnak, waren hier gut organisiert und agierten grenzüberschreitend, manchmal mit russischer Unterstützung. Dennoch lässt sich selbst für Van nicht von einem systematisch vorbereiteten Aufstand sprechen: Bewaffneter Kampf war in Van eine Option für unsichere Zeiten und den Fall, dass man wieder einmal zwischen die Fronten geriet. Er war in Van so gut vorbereitet wie nirgends sonst. Überdies bildeten die Armenier in Teilen der Provinz und in der Stadt die Mehrheit, nicht jedoch insgesamt. Dass sich armenische Dörfer in den Jahren vor dem Weltkrieg mit offenem jungtürkisch-armenischen Einverständnis bewaffneten, um Überfällen räuberischer Stämme nicht schutzlos ausgeliefert zu sein (184, 210), widerspricht deutlich der These der Autoren vom konspirativen bewaffneten Separatismus seit Ende des 19. Jahrhunderts.
Zu bewaffnetem armenischen Widerstand wäre es 1915 nicht gekommen, wenn die Ostfront nicht prekär geworden wäre, wenn die antiarmenische Politik nicht landesweit dramatisch zugenommen hätte und Cevdet nicht „brutal und illegal“ (200) gegen die Armenier Vans vorgegangen wäre. Armenische Waffen hätten insbesondere unter den Bedingungen einer Umsetzung des Reformplans geschwiegen. Diesen Plan karikieren die Autoren in CUP-Tradition übrigens als internationales Komplott für eine schließliche russische Annexion und bemühen dafür den Vergleich mit dem Libanon (148). Der Vergleich spräche jedoch für die international ausgehandelte Lösung: Das Autonomiestatut von 1861 bescherte dem Libanon einen bis 1914 währenden „langen Frieden“ (Engin Akarli).
Die Separatismusthese, das Pauschalbild einer „rebellischen Minderheit“ (48, 264) und die starre Komplotttheorie in diesem Buch zu verwerfen, bedeutet nicht, die Politik der Van-Armenier rundum gut zu heißen. Es gilt aber dezidiert klar zu stellen, dass eine große Mehrheit sowohl im armenischen Volk als auch in der Elite echte Reform, Sicherheit für Leben und Eigentum und Rechtssicherheit innerhalb des osmanischen Rahmens vor allem anderen anstrebte. Die zahlreichen armenischen Beamten im Dienste des osmanischen Staates, auch in Van (269-72) belegen primär dies. Zweifellos war die dominante Daschnak, wie das CUP, von sozialdarwinistischem und elitärem Denken infiziert; sie konnte jedoch, anders als das CUP, keinen staatlichen Machtapparat gegen eigene Bürger kehren. Wegen dieser grundlegenden Asymmetrie ist McCarthys alte Rede von „intercommunal warfare“ (233), die er auf ganz Anatolien bezieht, falsch. Nur in Frontregionen, wo russische Protektion mitspielte, ist sie angemessen.
Nach erfolgreichem Kampf gegen Cevdets Kräfte in Van und deren Abzug ließen sich die Armenier zahlreiche Schandtaten gegen die wehrlose muslimische Bevölkerung zuschulde kommen. So sehr es die Spuren türkischer Staatsideologie trägt, gehört es zu den Stärken dieses Buches, der muslimischen Bevölkerung und ihrem Leid in Ansätzen eine Stimme zu geben: etwa im retrospektiven Zeugnis eines einstmaligen Dorfjungen (247-251). Dass muslimische Opfer keine humanitäre Hilfe aus dem Ausland bekommen hätten (247), trifft jedoch nicht zu: Missionare in Van und an vielen anderen Stationen, namentlich in Urfa, schlossen sie von ihrer Hilfe keineswegs aus. Doch blieb humanitäre Hilfe, auch für die Armenier, ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Das Buch von Guenter Lewy, einem emeritierten Politologen und Holocaustforscher an der University of Massachusetts-Amherst, befasst sich mit den „Armeniermassakern in der osmanischen Türkei“, wie der Haupttitel lautet. Lewy war fasziniert, wie er schreibt, einem Detektiv gleich den Argumenten und Belegen einer hoch brisanten und zerklüfteten Historiografie nachzugehen (xi). Sein Buch ist auf weite Strecken ein quellenkritisches Resümee der Sekundärliteratur und publizierter Dokumente in westlichen Sprachen. Neben dieser für sich selbst und seine Leser vorgenommenen „Klärung“ (xii) ist seine „Schlüsselfrage“ (245) diejenige nach dem Vorsatz („premeditation“) für die Armeniermassaker. Seine Ambition liegt darin, eine „alternative Erklärung“ (252) zu liefern, jenseits „der armenischen“ und „der türkischen Position“.
Lewy gliedert sein Buch in vier Teile: Ein erster einführender über Vorgeschichte und Kontext des Themas; ein zweiter, betitelt als „Two rival historiographies“, über Kernargumente der jeweiligen Positionen; ein dritter und längster enthält Lewys Resümee wichtigster Ereignisse und eine Quellendiskussion; am Schluss steht seine „alternative Erklärung“. Darauf folgt noch ein Epilog zum Thema „Politisierung der Geschichte“; er spricht die armenische Bemühung um Anerkennung, geschichtspolitischen türkischen Druck auf höchster diplomatischer Ebene in Israel und den USA sowie die Frage nach der Zukunft der türkisch-armenischen Beziehungen an.
Lewy arbeitet zielbewusst, auf breiter Literaturbasis und, so scheint es, akribisch. Und doch stimmt einiges nicht. Kévorkian hat er an zwei verschiedenen Stellen ganz falsch verstanden: Kévorkian spricht weder von insgesamt 870.000 armenischen Deportierten noch von insgesamt 630.000 Todesopfern, wie Lewy vorgibt (236, 240) sondern von „ca. 870.000“ vorläufig Überlebenden der Deportation, „die sich in Syrien ‚wieder angesiedelt‘ vorfanden“, von denen in den Wüstenlagern „ca. 630.000, davon 200.000 massakriert in den Gegenden von Rasulayn und Der Zor,“ gestorben seien (Revue d’Histoire Arménienne Contemporaine 1998, 14, 61). Ärgerlich, dass dieses falsche Zitat des renommierten Forschers bereits Eingang in ein englischsprachiges Interview der türkischen Zeitung Zaman gefunden hat (24.4.2006).
Auch Christian Gerlachs Artikel „Nationsbildung im Krieg“ zitiert Lewy nicht zutreffend. Gerlach weist darin darauf hin, dass gewisse Befunde sich „mit dem Bilde eines straff zentral gesteuerten Vernichtungsprogramms kaum vereinbaren“ ließen. [6] Bei Lewy erscheint dies so, als würde Gerlach die Vorstellung einer vom Zentrum ausgehenden Vernichtungspolitik zurückweisen (248). Tatsächlich lässt Gerlach in seinem Artikel keinen Zweifel an jungtürkischer Vernichtungspolitik im Rahmen eines, wie er es nennt, „Massenraubmords“ an den Armeniern. Ronald Suny, Hilmar Kaiser und Donald Bloxham zitiert Lewy als Kritiker intentionalistischer Muster im Sinne Vahakn Dadrians (249). Er sagt aber nicht, dass alle drei die „tragischen Ereignisse von 1915-16“, wie Lewy sie oft benennt, als Genozid verstehen und ihm daher widersprechen, was seine Schlüsselfrage nach Vorsatz und Regierungsverantwortung betrifft.
Lewy peilt explizit die These an, man könne „die Schuld der Zentralregierung der Türkei für die Massaker von 1915-16“ nicht belegen. Zwar gäbe es im Falle des Holocausts auch keinen schriftlichen Befehl, doch könne hier der Entscheidungsprozess aus „Aussagen vor Gerichten“ und „reichhaltigen authentischen Dokumenten“ belegt werden (250). Die These von der Unschuld der Zentralregierung leitet Lewys „alternative Erklärung“: Er schiebt die Verantwortung auf lokale Killer, vor allem Kurden, ab; das Verhungernlassen in den behördlichen Lagern in Nordsyrien legt er als Resultat allgemeinen Mangels aus.
In einem etwas widersprüchlichen Schlusssatz schwächt er seine These ab, wenn er sagt, die Regierung trage „Verantwortung für die schlimm aus dem Ruder gelaufenen Deportationen, die Schuld an den Massakern jedoch, die stattfanden, müsse jenen angelastet werden, die wirklich töteten“ (257). Sein Satz freilich „it is impossible to prove conclusively that the young Turk regime did not initiate a program of deliberate genocide in the spring 1915“, der in der „Search inside“-Version bei Amazon noch erscheint (256), wurde offenbar im letzten Moment vor der Drucklegung gestrichen.
Die These Lewys ist inkohärent. Sie geht von einer unrealistisch naiven CUP-Zentralregierung aus, die wohlmeinend, aber überfordert, kurzsichtig und in Panik gewesen sei. So belesen Lewy ist, spiegelt sein Buch zudem in mancher Hinsicht noch die Diskussionslandschaft der 70er- und 80er-Jahre. Damals ließ sich ansatzweise von einer historiografischen Dichotomie zwischen armenischer und türkischer Position sprechen. Seither ist eine breite wissenschaftliche Produktion jenseits solcher Positionen und jenseits nationalistischer Rückbindungen entstanden, die den Armeniermord als Zusammenspiel zentraler und lokaler Kräfte und einen Prozess kumulativer Radikalisierung vor dem Hintergrund langfristiger ideologischer Optionen zu beschreiben weiß.
Lewy geht bewusst nicht auf den Genozidbegriff ein (xii), obwohl der Untertitel seines Buches „a disputed genocide“ lautet; er gehorcht aber implizit einer Vorstellung von Genozid im Sinne von intentionalistisch verstandenem Holocaust; vor diesem Hintergrund ist seine Kernfrage nach „premeditation“ zu verstehen. Raphael Lemkin erwähnt er nicht. Wie in seinem Werk über den Zigeunermord (The Nazi persecution of the gypsies, Oxford 2000) tendiert er dazu, den Begriff Genozid entgegen Lemkin und der etablierten Begrifflichkeit exklusiv für den Holocaust zu reservieren. Man kann Lewy aber zugute halten, dass er Exzesse türkischer Leugnungstradition wie auch die These vom Bürgerkrieg (252) zurückweist und durchblicken lässt, dass die bisherige Erinnerungspolitik der Türkei die Würde der armenischen Opfer und ihrer Nachfahren schwer verletzt habe.
Sahin A. Söylemezoglu ist, wie aus den ersten Seiten seines Buches hervorgeht, ein seit 1965 in Deutschland lebender türkischer Staatsangehöriger und passionierter Amateurhistoriker. Er versteht sein Buch, von dem die türkische Botschaft in Berlin „einige tausend Exemplare gekauft hat“, als Materialsammlung und Beitrag zur Diskussion und erbittet explizit Kritik. In seinen Kommentaren nimmt er nicht nur Stellung gegen die „Völkermord-These“, sondern möchte zu erkennen geben, wie „diese Tragödie [von 1915] planmäßig herbeigeführt“ (11 f.), ja dass „das ganze Blutbad von armenischen Terrororganisationen gezielt vorbereitet wurde“ (248 f.).
Söylemezoglus zentrales, auch auf dem Umschlag und in der Einleitung angesprochenes Dokument ist ein Brief des Amerikaners Cyrus Hamlin (42-44). Hamlin war 1839 als Missionar ins Osmanische Reich gegangen und hatte 1860 in Istanbul das Robert College gegründet (aus dem die heutige Elite-Universität Bogazici hervorgegangen ist). Er war 1876 in die USA zurückgekehrt, aber in enger Verbindung mit der Türkeimission geblieben und äußerte sich vielfach öffentlich über osmanische Probleme. So in der Zeitung „The Congregationalist“ am 23. Dezember 1893, wo er unter dem Titel „A dangerous movement among the Armenians“ die revolutionäre armenisch-sozialistische Partei Huntschak scharf angriff, die 1887 im Genfer Exil gegründet worden war.
Hamlin stand mit seiner Kritik im Einklang mit den amerikanischen Missionaren in der Türkei, die zwar die revolutionäre Gewalt verurteilten und mit radikalen Studenten darüber hitzige Debatten führten, aber zugleich die Missstände in den Ostprovinzen anprangerten und Seite an Seite mit den osmanischen Armeniern auf international abgestützte Reformen pochten. Wegen dieser Haltung rügte übrigens Mavroyeni, der osmanische Gesandte in Washington, Hamlin in einem Bericht vom Mai 1894.
In der Tat war die revolutionäre Gewalt, die die Huntschak propagierte, skandalös nicht nur, weil sie die Ermordung armenischer und nichtarmenischer Repräsentanten vorsah, die ihr im Wege standen, sondern zugleich auch, als Folge ihrer Aktionen, staatliche Repression und muslimische Gewaltakte gegen die armenische Bevölkerung bewusst provozieren wollte. Diese wiederum sollten, so das „entsetzliche und diabolische“ (Hamlin) Kalkül, die Großmächte, insbesondere Russland zum Handeln bewegen, nachdem die im Vertrag von Berlin 1878 von der osmanischen Regierung gegebenen Reformversprechen toter Buchstabe geblieben waren. Als einzige armenische Partei strebte die Huntschak ein unabhängiges Armenien an. Dieses sollte multiethnisch und sozialistisch sein. Die Huntschak verlor indes nach 1896 viel Einfluss zugunsten der Daschnak, die für Reformen im osmanischen Rahmen eintrat und diese im Bündnis mit dem CUP durchsetzen wollte.
Söylemezoglu begeht zwei gravierende Fehler: Er überträgt verallgemeinernd eine auf die hamidische Ära und die Huntschak der 1890er-Jahre gemünzte berechtige Aussage auf das Jahr 1915 (diese Fehlübertragung findet sich im Ansatz auch im Buch von McCarthys Team); und er pickt Hamlins Text aus dem bedeutenden Corpus von Dokumenten amerikanischer Missionare heraus. Der Tenor dieser amerikanischen Quellen ist jedoch Söylemezoglus Interpreation diametral entgegengesetzt, sowohl im Hinblick auf die großen antiarmenischen Pogrome von 1895/96 als auch auf die Zerstörung der ganzen Gemeinschaft 1915. Ähnlich pickt er aus Wolfgangs Gusts Befunden nur die Feststellung heraus, Lepsius habe deutsche diplomatische Dokumente gefälscht (249), ohne die davon nicht betroffene Hauptaussage dieser Dokumente anzusprechen: Dass „die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten“, wie Botschafter Wangenheim bereits am 7. Juli 1915 gegenüber dem Reichskanzler zusammenfasste.
Man kann Söylemezoglus Bemühen, positive Aspekte christlich-muslimischer und armenisch-türkischer Koexistenz in der osmanischen Welt herauszustellen, und sei es mit einem Sammelsurium verschiedensten Materials, im Hinblick auf die Herausforderungen der Gegenwart nur begrüßen. Doch fehlt dem amateurhistorischen Ansatz die bitter notwendige Glaubwürdigkeit: Vor lauter Splittern im Auge der Anderen bleibt der schwarze Balken, bleiben die Verantwortung des Staates gegenüber seinen armenischen Angehörigen, ja die elementarsten Fakten der armenischen „Tragödie von 1915“ – die Massaker und das Zugrundegehenlassen in der syrischen Wüste -, ausgeblendet.
These und Thema des Deutschtürken und freien Publizisten Cem Özgönül ist, wie bereits im Titel seines Buchs ersichtlich, „der von Lepsius geschaffene Mythos eines Völkermordes“ (64). In den ersten beiden Kapiteln geht er auf Lepsius‘ Biografie und „die Genozidthese“ ein, das dritte und Hauptkapitel, das fast die Hälfte des Buches umfasst, setzt sich mit „Lepsius-Manipulationen“ deutscher Dokumente auseinander; das vierte Kapitel sucht die deutsch-osmanische Beziehung im makrogeschichtlichen Kontext zu verstehen; das „Zwischenfazit“ (der Autor plant einen weiteren Band), und damit das Buch, endet mit dem Satz, man habe es „mit einem Mythos eines Völkermordes zu tun, der zugleich einen Rufmord an der Würde einer ganzen Nation darstellt“ (311).
Was Quellenerschließung und vor allem was die hier relevante Arbeit des Vergleichs der Originalquellen mit den von Johannes Lepsius 1919 publizierten betrifft, baut Özgönül weitestgehend auf dem auf, was Wolfgang und Sigrid Gust geleistet und im Internet (www.armenocide.de) publiziert haben; das gilt auch für relevante Informationen zu Lepsius‘ Biografie und seiner Tätigkeit als Nachrichtenmann in Holland 1917. Özgönül zieht zudem die Mikrofilme des Nachlasses von Ernst Jäckh an der Yale University sowie einige Sekundärliteratur auf Deutsch, Englisch und Türkisch hinzu. Auf dieser Basis setzt er sich mit Johannes Lepsius, den deutsch-türkischen Beziehungen und dem Ende des Osmanischen Reiches auseinander. Lepsius misst er dabei eine entscheidende Rolle als Produzent und Verbreiter von „literarischen Abbildungen“ dieser zentralen Periode zu.
Özgönül sucht Lepsius als Dokumentenfälscher und international agierenden, ein „engmaschiges proarmenisches Propagandanetzwerk“ anleitenden „Strippenzieher“ darzustellen. Im Bemühen, Lepsius‘ frontübergreifendes Netzwerk kräftig zu (über-)zeichnen, fließt etwa die Falschinformation ein, ein Mitarbeiter im Lepsius-Hilfswerk in Urfa, ein Basler Arzt, habe zuvor in britischen Diensten gestanden (82). Oder die vollmundige Fehlbehauptung, es gebe, vor dem Hintergrund globaler Agitation von Lepsius, „keine voneinander unabhängigen Primärquellen“ über den Armeniermord (101).
Vor allem aber scheint Özgönül einen wichtigen Befund aus Gusts Forschung, der seiner These entgegensteht, übersehen zu haben: Nahezu alle Kürzungen, Auslassungen oder Änderungen in den Dokumenten hatte bereits das Auswärtige Amt vorgenommen, das Lepsius die Kopien der Dokumente aushändigte; für seine Quellenedition arbeitete Lepsius nur mit Kopien. Nichts davon stellt jedoch den Haupttenor der deutschen Dokumente in Frage: eine zwischen Hilflosigkeit, Empörung und Zynismus schillernde deutsche Haltung gegenüber der faktisch ablaufenden, durch die Dokumente bezeugten Vernichtungspolitik.
Özgönül zieht immerhin deutsche Primärquellen heran und bemüht sich um einen demonstrativ hinterfragenden Zugang. Und er bringt rhetorische Begabung mit. Es geht in der Tat um viel: eine in mancher Hinsicht noch unbewältigte, fürs heutige deutsch-türkische Zusammenleben jedoch bedeutsame deutsch-osmanisch-armenische Vergangenheit. Die weltgeschichtliche Überlegung etwa, was geworden wäre, wenn Deutschland, Frankreich und England nach den Balkankriegen gemeinsam die unabdingbaren Reformen in den armenisch-kurdischen Ostprovinzen gefördert hätten, weist zutreffend auf ein gravierendes internationales Verantwortungsdefizit hin (264). Es hätte in der Tat konstruktive Alternativen noch kurz vor der Katastrophe gegeben.
Die Führungsverantwortung der CUP-Regierung, ob sie nun reagierte oder aktiv handelte mindert Özgönül unzulässig ab. Denn obwohl er den herausragenden Forscher über die jungtürkische Bewegung, Sükrü Hanioglu, in seiner Bibliografie aufführt, ignoriert er Hanioglus Befund, dass führende Männer im CUP-Zentralkomitee schon früh alles andere als „Egalitaristen“ (50) und der „Tradition des Osmanismus“, das heißt gemeinosmanischer Koexistenz, zugewandt (228), sondern primär Türkisten waren; die Balkankriege und das zunehmende Misstrauen innerhalb des Staatensystems bestärkten die CUP-Führung in ihrem Sozialdarwinismus und ihrer Entschlossenheit, Kleinasien zu türkisieren.
Halbwahrheiten des nationalistischen Geschichtsdiskurses, die mit Ängsten und Ressentiments der vielfach vom Balkan stammenden CUP-Akteure zusammenhängen, bleiben daher unkritisch stehen: die „Tatsache“, dass Russland mit dem Reformversuch von 1913/14 nach der balkanischen nun auch die kleinasiatische Türkei zerschlagen wollte (72); die Erzählung vom allgemeinen armenischen Aufstand und Bürgerkrieg ab 1914; schließlich die Rede von der „Stunde Null“, der Republikgründung 1923 (303). Dazu kommen notorische Zahlenmanipulationen (174).
Daher kann der Versuch des jungen Deutschtürken nicht ins Freie führen, sondern er endet in der Sackgasse des Nationalismus: Anstatt universaler Opfer- und Menschenwürde wird am Schluss durch angebliche Komplotte verletzter türkischer Nationalstolz aufs Podest gehoben; anstatt ans Wahrheitsethos wird ans „hohe Offizierethos“ so fragwürdiger Gestalten des deutschen Weltkriegsmilitarismus wie Bronsart von Schellendorf und Hans Humann appelliert (310). Anstatt von der historisch verbürgten, staatlich zu verantwortenden Vernichtung der Armenier Kleinasiens ist von einem rufmörderischen Mythos die Rede.
Gerne möchte ich Cem Özgönül für die Fortsetzung seiner Arbeit einen substanziellen Umbruch, einen Satz über Tabuschwellen, den Mut zu einer wirklichen Opferperspektive wünschen. Im vorliegenden Buch schießt sich Özgönül stattdessen auf die verzerrte Negativfigur Lepsius ein. Dieser habe ein weltweites antitürkisches Komplott namens Genozidmythos initiiert, unter anderem weil er als Philarmenier den Bruch des deutsch-osmanischen Kriegsbündnisses und einen Separatfrieden mit England verfolgt habe (309).
Die „Genozidthese“ sei sowieso „Teil eines revanchistischen Konzeptes“ (54). Das passt zwar zur kemalistischen Meistererzählung, die Lausanne als „alles überstrahlende Referenz, den Dreh- und Angelpunkt zur Konstituierung einer modernen türkischen Identität“ gegenüber lauter Feinden kultiviert (303). Um der vorausgehenden Gründungsetappe des Nationalstaats und den die Türkei heute bedrängenden historischen Fragen, auf den Grund zu gehen, reicht dies nicht.
Schwieriges deutsches Erinnern
Auch Annette Schaefgen befasst sich in ihrem Buch mit deutsch-türkischer Geschichte im Fokus des Armeniermords. Es ist die Frucht einer Dissertation, die sie am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin bei Wolfgang Benz geschrieben hat. Sie weist einleitend auf Lemkins Herausarbeitung des Begriffes „Genozid“ aus seinen Studien über Juden- und Armeniermorde hin und hält sich an den internationalen Forschungsstand, wenn sie schreibt: „Die Kriterien der UN-Völkermordkonvention treffen auf den Völkermord an den Armeniern zu, rückwirkend ist die Konvention jedoch nicht anzuwenden“ (9 f.).
Zuerst resümiert Schaefgen den historischen Sachverhalt und die Rezeption des Armeniermords in Deutschland bis 1945 auf Grund der Sekundärliteratur, danach setzt sie sich im Hauptteil der Arbeit mit der Rezeption des Völkermords in der Bundesrepublik auseinander. Am Schluss hält sie fest: „Bis zum Jahr 2005 war auf politischer Seite eine Kontinuität der Passivität und des Ausblendens zu konstatieren: Erst in diesem Jahr hat das Parlament das Thema aufgrund eigener Initiative behandelt“ (173). Sie hebt wenig überraschend hervor, dass „die türkischen Interessen in einem erheblichen Ausmaß“ an dieser Verzögerung schuld waren. Primär aus sicherheitspolitischen Motiven war die Bundesrepublik seit der türkischen NATO-Mitgliedschaft gehalten, eine protürkische, von massiver Entwicklungshilfe begleitete Politik zu betreiben (62-65). Ein unkritisch verbindendes und gerne benutztes Element dieser Beziehung war die „unvergessene Waffenbrüderschaft“ (66).
Schaefgen fördert in ihrem Hauptteil die diplomatische Doppelzüngigkeit sowie ungute Redeweisen zu Tage. Im Reisebericht des Botschafters Wilhelm Haas wurde 1955 „die Ausrottung der Armenier“ mit dem Hinweis auf die „Tragik des Vernichtungskampfes als ein geschichtlich unvermeidliches Geschehen“ bezeichnet (59). Haas‘ Nachfolger Fritz Oellers ließ 1957 im Stile der Ära vor 1945 verlauten: „Von den Türken restlos gelöst wurde die Armenier-Frage“ (61).
Auf diesem Hintergrund und bei einer wachsenden Arbeiterdiaspora aus der Türkei, ohne begleitende Geschichtsarbeit, war Deutschland in den 1980er-Jahren schlecht vorbereitet, eine offene öffentliche Auseinandersetzung zu führen. Der Journalist Ralph Giordano brachte 1986 im WDR erstmals eine Fernsehdokumentation über den Armeniermord, die den Titel „Die armenische Frage existiert nicht mehr“ trug (so ein von der deutschen Botschaft festgehaltenes Zitat Talats). Giordano wurde von deutschtürkischer Seite massiv bedroht und beschimpft. Diplomatischer Druck und organisierte Leugnung machten sich mehrmals aggressiv bemerkbar, wenn Konferenzen oder bescheidene Denkmäler zur Erinnerung an 1915 auf die Tagesordnung kamen.
Der Mitte der 80er-Jahre ausgetragene Historikerstreit um die Einzigartigkeit der Judenvernichtung war ebenfalls nicht dazu angelegt, der schwierigen deutsch-türkisch-armenischen Vergangenheit gerecht zu werden. So waren für einen der Kontrahenten, Eberhard Jäckel, die Armeniermassaker „nach allem, was wir wissen, eher von Morden begleitete Deportationen als geplanter Völkermord“ (103). Das Argument von der Einzigartigkeit wurde fortan von türkischen Organisationen und der türkischen Diplomatie im Einklang mit israelischer Politik und deren Lobbygruppen dafür missbraucht, dem Armeniermord jeglichen Genozidcharakter abzusprechen (92 und 103 f.).
Giordanos Film blieb nach der Erstaustrahlung 1986, die eine Welle deutschtürkischer Proteste ausgelöst hatte, bis 2005 beim WDR, der zeitweilig sogar die Existenz des Streifens bestritt, unter striktem Verschluss (95 f.). Bei manchen Politikern herrschte Opportunismus vor. Am schlimmsten jedoch war, dass „dissidente“ Deutschtürken, die – wie Taner Akçam oder Elcin Kürsat-Ahlers – von der nationaltürkischen Linie abwichen, nicht dezidiert vor Bedrohung und diffamierenden Artikeln in der europäischen türkischen Presse geschützt wurden oder werden konnten (120). Die prominentesten, wirksamsten deutschen Stimmen für die Ächtung des Armeniermordes blieben, neben Lepsius, bis zur Jahrhundertwende die literarischen von Armin Wegener, Franz Werfel und Edgard Hilsenrath. Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von 1933 und Hilsenraths Roman „Das Märchen vom letzten Gedanken“ von 1989 widmet Schaefgen ein eigenes kürzeres Kapitel.
Die eingangs angesprochene Veränderung der internationalen Politik-, Medien- und Forschungslandschaft seit den 90er-Jahren hat sich schließlich auch in Deutschland ausgewirkt. Erstmals 2002 tauchte der armenische Völkermord auf einem schulischen Lehrplan auf. Als er alsbald auf türkischen Druck hin klamm heimlich wieder gestrichen wurde, geriet der „feige wie servile Akt der Selbstzensur“ – so eine Tageszeitung – Anfang 2005 an die große Glocke (138). Nun, zum 90. Jahrstag von 1915, war ein Damm gebrochen. Lange nach der am 11. Januar 1916 buchstäblich niedergebrüllten Anfrage Karl Liebknechts im Deutschen Reichstag, die Aufschluss über die Ausrottung der Armenier forderte, nahm sich das deutsche Parlament erstmals doch noch des Themas an. In einmütigem Kontrast zu 1916 sprachen nun die Abgeordneten von Verbrechen, Vertreibung, Vernichtung und deutscher Mitverantwortung, mieden aber in der Resolution vom 16. Juni 2005 aus Rücksicht auf die Türkei den Begriff Völkermord.
Annette Schaefgen hat eine wichtige Arbeit zu einem bis vor wenigen Jahren noch verdrängten Thema deutsch-türkischer Geschichte vorgelegt. Einige wenige Korrekturen seien noch angebracht: Der Beliner Kongress 1878 versprach den Armeniern der Ostprovinzen keinerlei Autonomie, nur Sicherheit (17); Genf war nicht das (einzige) Zentrum proarmenischer Hilfe in der Schweiz (19); Henry Riggs war amerikanischer Missionar, nicht Diplomat (33); die Begriffe „armenierrein“ und „Endlösung“ wurden schon von deutschen Zeitgenossen, wenn auch selten, gebraucht (167). Über den radikal gewandelten Scheubner-Richter, sein Verhältnis zum jungen Hitler (51) und dessen explizite Angst, ohne „Lösung der Judenfrage“ würde „das deutsche Volk“ „wie die Armenier“ werden, gibt es nun eine neuere Forschungsarbeit von Mike Joseph. [7]
Jörg Berlins und Adrian Klenners „Darstellung und Dokumente“ (so im Untertitel) sind explizit didaktisch ausgerichtet. Das Buch beginnt mit einem historischen Überblick über die Geschichte des osmanisch-armenischen Siedlungsgebietes, der sorgfältig auf der Basis aktueller Sekundärliteratur und publizierter Quellen erarbeitet ist. Darauf folgt eine reiche Auswahl an Quellen, die alle, soweit fremdsprachig, ins Deutsche übersetzt sind. Die Übersicht gliedert sich nach prägnanten Fragestellungen und geht auch speziell auf die Frage deutscher Mitverantwortung ein. Für die Autoren „sind im Hinblick auf eine Mitverantwortung deutscher Offiziere noch bedrückende Forschungsergebnisse zu befürchten“ (65). Anders als der Buchtitel „Völkermord oder Vertreibung?“ suggeriert, lassen sie keinen Zweifel offen, dass ersteres zutrifft. Ein Manko des Überblicks ist der fehlende Nachweis von Zitaten.
Dieses Buch ist die reichhaltigste einschlägige Handreichung für Schulen, aber auch für einführende Übungen an Universitäten. Tücken seien nicht verschwiegen: Lehrende brauchen viel Vorwissen, um zum Beispiel das Dokument 16, worin die Pariser Huntschak-Zentrale 1914 zum Kampf gegen das Osmanische Reich aufruft (91), mit der Information zu relativieren, dass die osmanischen Huntschak-Komitees 1914 eine ganz andere Haltung deklarierten. Ferner ist in der Legende zu Abbildung 15 im Kartenanhang, beides aus einer Publikation von 1989 entnommen, von Armenierprogomen, „ausgeführt von den kurdischen Hamidijetruppen, 1894-96“ die Rede: Kurdische Hamidiye waren indes längst nicht die einzigen Täter, wie namentlich Jelle Verheijs Studie herausgearbeitet hat. [8] Der Hinweis auf schwer vermeidbare Tücken tut diesem nützlichen und empfehlenswerten Band indes keinen Abbruch.
Ein weiteres klares Zeichen dafür, dass der Armeniergenozid – und mit ihm eine mit Deutschland und Europa verknüpfte spätosmanische Welt – im deutschsprachigen Wissenschafts- und Bildungsbetrieb schließlich Eingang gefunden hat, ist Boris Barths handliches Übersichtswerk über Völkermord im 20. Jahrhundert. Barths durchdachtes, anregendes Werk ist in fünf Teile gegliedert. Ein erster befasst sich mit Genozid im Hinblick auf Fragen der Definition, des Völkerrechts und der historischen Herleitung. Der zweite Teil resümiert drei „Fälle von eindeutigem Völkermord“, so den Armeniermord im Ersten Weltkrieg, den Judenmord im Zweiten Weltkrieg sowie Ruanda 1994; der dritte Teil „Fälle mit Genozidverdacht“, darunter solche in Deutsch-Südwestafrika und unter dem stalinistischen Regime. Der vierte Teil geht der Frage nach dem Zusammenhang von „Gesellschaftsstruktur und Genozid“ nach, der fünfte der Frage nach einer möglichen Früherkennung entstehender Genozide.
Man mag, gerade als Historiker, Barths strengen, eng gefassten Begriff von Genozid befürworten, auch wenn sich damit eine Schere zum juristischen Begriff auftut: Im Einklang mit der UN-Genozidkonvention beschränkt er sich auf eindeutig ethnoreligiöse Opfergruppen und schließt damit die Verbrechen des Kommunismus aus. Er setzt jedoch einen umfassenderen Vernichtungswillen voraus, als die UN-Definition es tut, wobei er Genozid als Staatsverbrechen auffasst (40).
Es gibt gute Gründe, Genozid als modernes Phänomen auf die einschlägigen Verbrechen des 20. Jahrhunderts einzuschränken. Barth betont zu Recht den tiefen Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs und seine verheerende Langzeitwirkung (189 f.). Dennoch spricht die Genoziddefinition klar dafür, einen umfangreichen Massenmord wie denjenigen an der Bevölkerung der Vendée während der Französischen Revolution auch als Genozid zu betrachten. Die exklusive Anwendung auf die Zeit nach 1914 widerspricht auch dem Gebrauch von Raphael Lemkin, dem Schöpfer des Begriffes. Zur Frage von Lemkins Denkweg (76) wäre die Heranziehung seiner Autobiografie wünschenswert gewesen. [9]
Genozid weiterhin als „Verbrechen aller Verbrechen“ (48) und „supreme crime“ (43) zu begreifen, wie das viele Autoren tun, historisiert die zeitbedingte Exklusionslogik nationalistischer Akteure nicht ausreichend. Ein schlagendes Beispiel dafür sind die „Euthanasie“-Morde ab 1939, die keineswegs der Genoziddefinition entsprechen, aber eine wichtige Etappe auch auf dem Weg zur Judenvernichtung darstellen (111). „Die wichtigste Lektion aus der Ausrottung der europäischen Juden“ besteht daher kaum darin, „weitere Genozide“, sondern weitere Menschheitsverbrechen und deren Voraussetzungen zu verhindern (61). Zweifellos sind noch unheimlichere Menschheitsverbrechen als solche an ethnoreligiös beziehungsweise rassisch definierten Opfergruppen denkbar, vielleicht auch historisch greifbar.
Tragender Begriff dafür kann nicht Genozid, sondern muss der universalere BegriffCrime contre l’humanité oder crime de lèse-humanité sein: Letzterer Begriff wurde vom russisch-jüdischen Juristen der russischen Botschaft in Istanbul und Mitautoren des Reformplans André Mandelstam auf den Armeniermord angewandt, lange bevor ihn 1946 ein polnischer Ankläger benutzte (9). Ganz am Ende weist Barth dann mit Bezug auf eine Äußerung des International Criminal Tribunal for Rwanda darauf hin, dass „zwischen Völkermord und crimes against humanity keine Normenhierarchie bestünde“ (209).
Vielleicht wird eine künftige Generation Genozid unter eine universale Kategorie von Glaubens- oder Religionsverbrechen einordnen und damit zur Geltung bringen, dass radikale Akteure, religiös beziehungsweise ideologisch motiviert, an das Gebot von Zerstörung und Massenmord zur Schaffung einer neuen, „bereinigten“ Gesellschaft glaubten. Mit Bezug auf den Befehl an die Hebräer in Numeri 31, alle Midianiter, Männer, Frauen und Kinder zu töten, um in Kanaan eine neue, Tora-konforme Gesellschaft aufbauen zu können, schrieb Yehuda Bauer: „If that story is not a ‚divine‘ justification for genocide, I don’t know what it is“. [9] Das steht im Widerspruch zu Barths Aussage, vor dem 20. Jahrhundert sei „in keinem Fall eine unbedingte, gezielte und ideologische Vernichtungsabsicht nachweisbar“ (31). Auch die Nazis „waren nicht in der Lage, Juden rassisch zu identifizieren, und mussten auf die Religion zurückgreifen“, hält Boris Barth indes treffend fest (185 f.). Im langen Schatten des nach 1914 eingetretenen „Moratoriums der Bergpredigt“ (Tucholsky) kombinierte der Wahn der Nazis Rassenerwählungstheorie mit religiöser Kategorisierung. Das mosaische Projekt jedoch hatte lange zuvor in eine Entwicklung gemündet, die die eigene Geschichte und ihre Schatten radikal zu hinterfragen wusste. Damit stempelte es jegliche künftige analoge Wiederholung von ethnoreligiöser „Säuberung“ zum Verbrechen.
Seit dem Ende des Kalten Krieges, der in der Türkei avant la lettre schon 1919 begonnen hat, beginnt die internationale Gemeinschaft und die transnationale Forschungsgemeinde die Vernichtung der Armenier Kleinasiens von 1915/16 in diesem Sinn und gemäß der Neuformulierung Raphael Lemkins zu verstehen. Die hier vorgestellten Bücher belegen die Intensität der Auseinandersetzung, die im Gange ist, und den Willen, wie bei Boris Barth, sie endlich vollgültig ins Geschichtsverständnis des 20. Jahrhunderts zu integrieren. Die Auseinandersetzung ist bei den meisten Autoren mit der festen Hoffnung verbunden, dass die kritische Ausleuchtung türkisch-armenisch-europäischer Geschichte, so anstrengend und schmerzlich sie ist, zu konstruktiven Beziehungen beitragen wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. meine Besprechung von beidem in: Neue Politische Literatur 2 (2005).
[2] Bryan Mark Rigg: Hitler’s Jewish soldiers.The untold story of Nazi racial laws and men of Jewish descent in the German military, Kansas 2002 (deutsche Ausgabe, Paderborn 2003).
[3] Vgl. meine Besprechung in: Neue Politische Literatur 2 (2005).
[4] Unter anderem mag hier allzu vorwitzige Kritik an deutsch-osmanischer Kriegspropaganda 1914/15 gemeint sein; vgl. Jakob Künzler: Im Landes des Blutes und der Tränen, Zürich 2004, 32 und 37.
[5] Vgl. meine Besprechung des Militärquellenbands Arsiv Belgeleriyle Ermeni Faaliyetleri 1914-1918, Ankara 2005, in: Neue Politische Literatur 2 (2005).
[6] Gerlach, in: H. Kieser / D. Schaller: Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich 2002, 358.
[7] Mike Joseph, in: Kieser / Plozza: Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa, Zürich 2006, 147-165.
[8] Die armenischen Massaker von 1894-1896. Anatomie und Hintergründe einer Krise, in: H. Kieser (Hg.): Die armenische Frage und die Schweiz (1896-1923), Zürich 1999, 69-129.
[9] Teilweise veröffentlicht in Totten / Jacobs (Hg.): Pioneers of Genocide Studies, New Brunswick 2002.
[9] Yehuda Bauer, in: Rethinking the Holocaust, New Haven 2001, 41.
Alle Übersetzungen fremdsprachiger Zitate stammen vom Rezensenten.
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Aus dieser Quelle zur weiteren Verbreitung entnommen:
https://haypressnews.wordpress.com/2012/05/01/wikileaks-turkische-archive-wurden-bezuglich-des-genozids-an-den-armeniern-gereinigt/
WIKILEAKS: TÜRKISCHE ARCHIVE WURDEN BEZÜGLICH DES GENOZIDS AN DEN ARMENIERN GEREINIGT
Ein türkischer Professor äußerte sich gegenüber dem U.S. Konsul General in Istanbul, dass es Bemühungen gab, die Osmanischen Archive bezüglich belastender Dokumente über den Genozid an den Armeniern zu „reinigen“. In dem auf den 12. Juli 2004 datierten WikiLeaks-Dokument04ISTANBUL1074 ist vorzufinden, dass Professor Halil Berktay von der Sabanci Universität Türkei, dem damaligen U.S. Generalkonsul in Istanbul David Arnett anvertraut hat, dass es zwei ernsthafte Versuche gab die türkischen Archive von belastenden Dokumenten zur armenischen Frage zu „reinigen“.
Die erste „Reinigung“, so Berktay, fand im Jahre 1918 statt. Vermutlich bevor die Alliierten Kräfte Istanbul einnahmen. Berktay und andere deuten darauf hin, dass wichtige Dokumente aus den türkischen Archiven gestohlen wurden. Berktay sagt aus, dass es einen zweiten Versuch in Verbindung mit Halil Turgut Özal’s Bestrebungen einer Öffnung der türkischen Archive gab. Özal war von 1989-1993 Staatspräsident der Türkei. Dieser zweite Versuch wurde nach Berktay von pensionierten türkischen Diplomaten und Offizieren vollzogen, angeführt von dem damaligen Botschafter Muharrem Nuri Birgi. Berktay sagt weiter aus, dass zu der Zeit, als er die Archive untersuchte, Nuri Birgi sich regelmäßig mit einem gemeinsamen Freund traf und bezüglich der Armenier reuevoll gestand:
Wir haben sie tatsächlich abgeschlachtet.
Tony Greenwood, der Direktor des „American Research Institute“ der Türkei sagte aus, dass sehr wohl bekannt war, dass in der selben Zeit als er in den Archiven arbeitete, eine Gruppe von pensionierten Militär Offizieren privilegierten Zugang zu den Archiven hatte und Monate damit verbrachte die Dokumente durchzugehen. Ein weiterer türkischer Wissenschaftler berichtet, dass der fortlaufende Katalogisierungs-Prozess dafür benutzt wird die türkischen Archive von belastenden Beweisen zu „reinigen“.
Historikerkommission und die türkischen Archive
Im Jahre 2005 schlug der türkische Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan erstmals öffentlich die Einrichtung einer bilateralen Historiker-Kommission vor. Das WikiLeaks-Dokument 04ISTANBUL1074, welches von einer „Reinigung“ der türkischen Archive von belastenden Dokumenten berichtet, ist auf den 12. Juli 2004 datiert, somit kurz vor dem ersten öffentlichen Vorschlag von Erdogan zur Bildung solch einer Kommission und der Untersuchung der nationalen Archive.
Zu den türkischen Archiven schrieb der türkische Journalist, politische Kommentator und Schriftsteller Mehmet Ali Birandkürzlich, ob die Amtsträger der Türkei begrenzt auf oder zufrieden damit waren, nur türkische Archive für ihre Version der Geschichte zu benutzen, weil sie in diesen keine plausiblen Dokumente oder Beweise zum Völkermord an den Armeniern finden konnten. Beinahe zeitgleich mit dem Vorschlag der Türkei aus dem Jahre 2005 wurde kurze Zeit später jedoch die Historiker-Konferenz, die vom 25. bis 27. Mai 2005 in Istanbul stattfinden sollte, durch den türkischen Justizminister Cemil Cicek selbst unterbunden und die von der türkischen Regierungsmeinung abweichenden Positionen türkischer Wissenschaftler als „Dolchstoß in den Rücken der türkischen Nation“ diffamiert. Der Deutsche Bundestag betrachtete dies mit tiefer Sorge und schrieb in diesem Zusammenhang in einem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP:
Der Vorschlag von Ministerpräsident Erdogan, eine gemeinsame türkisch-armenische Historiker-Kommission einzurichten, kann nur dann Erfolg haben, wenn er auf der Basis eines freien und öffentlichen wissenschaftlichen Diskurses umgesetzt wird.
Armenien lehnt den Vorschlag einer Historikerkommission in Anbetracht der Geschichte der türkischen Archive und den türkischen Umgang mit dieser Thematik ab und betrachtet dies als einen Versuch Ankaras Zeit zu gewinnen, so der ehemalige Außenminister Armeniens, Wartan Oskanjan. Zudem würde jede Teilnahme an einer Historikerkonferenz die Faktizität des Völkermords in Frage stellen und ist auch aufgrund jahrzehntelanger, detaillierter Aufarbeitung entbehrlich.
Armenischen Archive offen, türkische Historiker haben bereits darin gearbeitet
Auf die immer wiederkehrenden türkischen Vorwürfe, Armenien solle seine Archive öffnen, antwortete der Chef des „Armenian Genocide Museum“, Hayk Demoyan, dass die Archive in Armenien für jedermann, auch für türkische Funktionäre, zugänglich sind. Auch der Direktor des armenischen Nationalarchivs, Dr. Amatuni Virabyan, informierte im April diesen Jahres erneut, dass die Dokumente die im Nationalarchiv Armeniens lagern nicht nur für Staatsbürger Armeniens, sondern auch für Ausländer zugänglich sind. Er fügte hinzu, dass das Archiv bis zum Jahre 2015 drei mehrsprachige Bände mit Dokumenten veröffentlichen werde. In einem seltenen Interview mit der türkischen Tageszeitung „Hürriyet Daily News“ lud der Direktor des armenischen Nationalarchivs Virabyan türkische Historiker ein, in den Archiven zu recherchieren und bot ihnen Hilfe in jeder Hinsicht an. Weiter berichtet der Direktor:
Die Dokumente im Nationalarchiv der Türkei sind alle in osmanischer Sprache. Unsere Dokumente in Armenien hingegen, sind auf armenisch, russisch, englisch, deutsch und französisch erhältlich. Dies macht die Sache für Forscher einfacher.
Virabyan fügte hinzu, dass 12,000 Dokumente des Archivs zudem auf digitale Medien transferiert wurden und hunderte dieser Dokumente bereits Online zugänglich sind. Kemal Çiçek, ein Experte der „Turkish Historical Society“ sagte, dass türkische Historiker und Forscher bereits in den armenischen Archiven arbeiten, diese jedoch nur wenig Informationen zum Jahr 1915 enthalten, da die Republik Armenien zum Zeitpunkt des Völkermords noch gar nicht existierte. Der Historiker Ara Safarian schlägt vor in dem wichtigen türkischen Militärarchiv, welches jedoch nur für wenige ausgewählte Historiker zugänglich ist, Forschungen zu betreiben. Entscheidende Dokumente befinden sich zudem im Archiv des Auswärtigen Amtes des Deutschen Reiches in Berlin.
Internationale Archive und Genozidforscher bestätigen einen Völkermord
Zahlreiche internationale Archive, unter anderem das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, die amerikanischen Nationalarchive, die Library of Congress der USA, sowie Archive in Frankreich, Dänemark, Schweden, Russland und Großbritannien belegen dokumentiert den Völkermord an den Armeniern. Der Völkermord an den Armeniern wird von der „Internationalen Vereinigung von Völkermordforschern“ (IAGS), dem „Permanenten Völkertribunal“ sowie von der überwiegenden Mehrheit der internationalen Geschichtswissenschaft als erwiesen angesehen und ist neben dem Holocaust der am meist untersuchte Genozid weltweit. Am 9. Juni 2000 veröffentlichte die New York Times einen Artikel, in dem 126 internationale Genozidforscher bestätigten, dass es sich bei dem Völkermord an den Armeniern um eine unbestreitbare Tatsache handelt und forderten westliche Demokratien dazu auf, dies offiziell anzuerkennen.
Aus dieser Quelle zur weiteren Verbreitung entnommen:
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-01/tuerkei-armenien-voelkermord
Völkermord
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Türken sind zu sehr Opfer, um Täter zu sein
Nicht nur die türkische Regierung tobt. Die Türken leugnen ihre Schuld an den Armeniern, weil sie sich lieber in der Rolle des Opfers sehen, kommentiert D. Baspinar.
Von Deniz Baspinar 25. Januar 2012, 17:39 Uhr
Die Großmutter einer meiner Cousinen ist Armenierin. Als Kind bekam ich ihre Geschichte zu hören. Ihre gesamte Familie war während des ersten Weltkrieges ermordet worden. Ein osmanischer Offizier hatte sie als kleines Mädchen in seine Familie aufgenommen und dadurch gerettet. Später heiratete sie einen Türken und verbrachte ihr ganzes Leben in Anatolien.
Die Mehrheit der Türken in der Türkei , aber auch in Deutschland, wächst jedoch mit einer anderen Geschichte auf. Ich bekam diese zweite Version als Kind ebenfalls erzählt. Die ging so: Während des ersten Weltkrieges hätten sich die Armenier mit dem äußeren Feind, also den Russen, verschworen, seien so der eigenen Heimatfront in den Rücken gefallen und hätten gar Massaker unter der türkischen Zivilbevölkerung angerichtet.
In der ersten Geschichte sind Türken die Täter, sie ermorden wehrlose Bürger des osmanischen Reiches. In der zweiten Geschichte sind die Türken die Opfer, die verraten und getötet werden. Egal zu welchem Ergebnis international renommierte Historiker gelangen, egal wie viele Dokumente die Tötung von Hunderttausenden Armeniern belegen: Die meisten Türken sehen sich als Opfer. Sie leugnen nicht nur die historische Schuld, sie verdrehen die Wirklichkeit.
Das Herumpoltern des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, die Drohungen in Richtung Frankreich , dessen Parlament gerade die Leugnung des Genozids an den Armeniern unter Strafe gestellt hat, ist dieser türkischen Lesart der Ereignisse geschuldet. Erdogan weiß es vermutlich besser, er hat Zugang zu den unter Verschluss gehaltenen historischen Dokumenten auf türkischer Seite. Aber er bedient ein Kernelement des türkischen Selbstverständnisses, mag es noch so neurotisch anmuten. Und das ist: Wir sind immer Opfer; wie könnten wir da Täter sein? Die Türken sind so damit beschäftigt, sich über ihr Opfer-Sein immer und überall zu empören, dass sie die eigene Schuld gar nicht in ihr Selbstbild integrieren können.
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Auch bei banaleren Themen und unter Deutsch-Türken ist diese Haltung zu beobachten: Sterben Touristen in der Türkei an gepanschtem Alkohol , sehen sie sich als Opfer von Negativschlagzeilen, die dem Tourismus schaden könnten. Geht ein wichtiges EM-Qualifikationsspiel verloren, dann hat der Schiedsrichter das türkische Team systematisch benachteiligt. Wird das Kind in der Schule schlecht benotet, dann sehen die Eltern die Ursache in der türkenfeindlichen Haltung der Lehrerin.
Das Problem dabei ist, dass es tatsächlich Rassismus und Benachteiligung gibt und es ein Leichtes ist, diese Ungerechtigkeit heranzuziehen, um das eigene abgeschottete Weltbild aufrechtzuerhalten. Auch Paranoiker werden manchmal verfolgt. Das macht es so schwer, dagegen zu argumentieren.
Es ist irritierend, dass die Türkei gerade zu einem Zeitpunkt, an dem sie durch ihr immenses Wirtschaftswachstum und ihr laizistisches Staatsmodell als Vorbild für viele Länder im arabischen Raum gilt, nicht die Stärke aufbringt, sich zu ihrer wechselhaften Geschichte zu bekennen.
Stattdessen speisen sich aus der vermeintlichen Opferposition („Unsere Meinungsfreiheit wird beschnitten!“) ungeheure Aggressionen, die in Form von Beschimpfungen und Sanktionsandrohungen gegen Frankreich gerichtet werden.
Die Haltung und der rhetorische Stil der türkischen Regierung sind angesichts der vielen Opfer zutiefst beschämend. Der armenischen Opfer wohlgemerkt.
Aus dieser Quelle zur weiteren Verbreitung entnommen: http://www.stern.de/politik/geschichte/osmanisches-reich-der-vergessene-voelkermord-3555408.html
Der vergessene Völkermord
Mit unvorstellbarer Grausamkeit und Konsequenz wurden im Schatten des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich bis zu 1,5 Millionen Armenier getötet. Das verbündete Deutsche Reich schwieg dazu.
Sie wurden erschlagen, erstochen, erschossen, ertränkt, gehängt, zu Todesmärschen durch die syrische Wüste getrieben und dem Tod durch Erschöpfung, Verhungern und Verdursten überlassen. Dass dies vor 90 Jahren das Schicksal von bis zu 1,5 Millionen Armeniern in der heutigen Türkei war, ist nicht mehr umstritten. „Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ fragte Adolf Hitler am 22. August 1939, am Vorabend von Zweitem Weltkrieg und Holocaust. Bis heute umstritten ist aber, ob es sich um den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts handelte. Frankreich, Kanada, Russland, die Schweiz und die Niederlande haben Jahrzehnte danach gegen zum Teil heftigen türkischen Protest beschlossen, offiziell von einem Genozid an den Armeniern zu sprechen. Viele andere Staaten – wie auch Deutschland, Großbritannien und die USA – tun das bis heute nicht.
„Tabuisierung des Völkermords“
Neuerdings gewinnt das Thema angesichts des von der Türkei angestrebten EU-Beitritts an Gewicht. „Das war ein vergessener Völkermord“, sagt Wolfgang Gust, Herausgeber der aus Schriftstücken des Auswärtigen Amtes erstellten Dokumentation „Der Völkermord an den Armeniern 1915/16“, die gerade im Verlag Zu Klampen erschienen ist – das Wort „war“ betonend. „Da die Türken die Tabuisierung des Völkermords sehr weit getrieben haben, ist das natürlich die höchste Hürde, die man ihnen stellen kann“, sagt der frühere „Spiegel“-Journalist.
Die Verfolgung der Armenier begann am 24. April 1915, als die jungtürkische Regierung die gesamte armenische Elite in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, verhaften ließ. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 wurde Schätzungen zufolge die Hälfte der armenischen Bevölkerung in der Türkei getötet, vertrieben, zur Assimilierung gezwungen. Kurden beteiligten sich mit Raubüberfällen, Vergewaltigungen und Mordorgien. Widerstand gegen die Deportationen gab es nur vereinzelt. Franz Werfel hat 1933 anhand eines authentischen Falles in seinem Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ den Armeniern ein Denkmal gesetzt.
„Die türkischen Soldaten schlugen uns mit Peitschen und Säbeln“, sagt die 102-jährige Gulinija Mussojan, die damals 12 Jahre alt war. Mit 6.000 Frauen, Kindern und älteren Männern seien sie so vom Mittelmeerdorf Kessab im heutigen Syrien durch die Steinwüste getrieben worden. „Es war heiß, die Sonne sengend über uns, wir waren durstig und sie gaben uns nichts zu trinken, wir hatten nur das Brot, das wir von zu Hause mitgenommen hatten.“ Nach etwa einer Woche seien sie mit ihrer älteren Schwester, ihrem jüngeren Bruder und ihrer Mutter in dem Ort Hamah, 160 Kilometer südöstlich von Kessab, angekommen.
Fanatischer Hass extremer Kräfte
Innerhalb der Jungtürken war es laut Gust eigentlich nur eine Gruppe von rund 20 Mann, die sich in einen fanatischen Hass gegen die Armenier hineinsteigerte. Als der Gründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, wegen griechischer Kriegserfolge auf Waffenlager der Jungtürken angewiesen gewesen sei, habe der Aufstieg dieser extremen Kräfte bis in höchste Regierungsämter eingesetzt. Abdul Talaat zum Beispiel, einer der Drahtzieher der Deportationen aus Aleppo, wurde Innenminister.
Schon unter dem „roten Sultan“ Abdul Hamid II. hatte es 1895/96 Armenier-Verfolgungen gegeben. Aber nach der jungtürkischen Revolution 1908 steigerten sich Talaat und Enver in den Wahn, ihr Land müsse von allen nicht-muslimischen und nicht-türkischen Elementen „gesäubert“ werden. Und als wichtigster „innerer Feind“ wurden die Armenier ausgemacht, die schon Jahrhunderte vor der Ankunft der Seldschuken in Ostanatolien gesiedelt und es im Osmanischen Reich als Bankiers, Anwälte, Ärzte, Apotheker, Lehrer, Kaufleute, Unternehmer und Gewerbetreibende zu beneidetem Wohlstand gebracht hatten.
Das Vorgehen sei planmäßig gewesen und von einem „Komitee für Einheit und Fortschritt“ gelenkt worden. „Das war, wenn man so will, so etwas wie die NSDAP und diese so genannte Spezialorganisation, diese Sonderorganisation (Teskilati Mahsusa), das war die SS. So war das organisiert. Es gibt ein paar Quellen, wo die Deutschen staunen und sagen: Für orientalische Verhältnisse ist das eigentlich unglaublich, wie die in relativ kurzer Zeit von einem Jahr es geschafft haben, die Armenier umzubringen oder zu assimilieren“, sagt Gust.
Kaiser Wilhelm II. hatte angesichts der deutschen Interessen schon 1909 die Devise ausgegeben: „Die Armenier gehen uns nichts an.“ Deutsche Diplomaten, Militärgesandte und Offiziere wurden zu Zeugen des türkischen Vorgehens, über das sie ausschließlich an ranghöchste Stellen in Berlin berichteten. Korvettenkapitän Hans Humann, Marineattache an der deutschen Botschaft in Konstantinopel, berichtete bereits am 15. Juni 1915: „Die Armenier wurden … jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.“ Der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethman Hollweg definierte die deutsche Haltung so: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ Bei Kriegsende fanden die schlimmsten Kriegsverbrecher mit deutscher Militärhilfe Zuflucht in Berlin. Armenische Rächer übten in einer „Operation Nemesis“ Selbstjustiz. So erschoss ein armenischer Student am 15. März 1921 mitten in Berlin Talaat Pascha.
„Sadistische Orgien und perverseste Verbrechen“
Der amerikanische Botschafter in der Türkei Henry Morgenthau, notierte in seinem Kriegstagebuch: „Ich habe keinesfalls über die schlimmsten Details berichtet, denn die ganzen Geschichten der sadistischen Orgien, deren Opfer diese armenischen Männer und Frauen wurden, können niemals in einer amerikanischen Publikation veröffentlicht werden. Die perversesten Verbrechen, die sich Menschen ausdenken können, wurden zum täglichen Unglück dieses treuen Volkes.“
Für Armenien und seine Diaspora gibt es nur einen Begriff für die Ereignisse: „Mez Eghern“ – das Große Gemetzel. Die Regierung in Eriwan hat den türkischen Nachbarn aufgefordert, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Ein Gelehrter der Armenischen Akademie der Wissenschaften, Nikolai Howschenisjan, sagt: „Die erste Tragödie ist, wenn man diese Gräueltat begeht. Die zweite ist es, wenn man sie nach 90 Jahren noch nicht akzeptiert.“ Die Armenier, fügt er hinzu, wollten „ihr eigenes Nürnberg“, ihr eigenes Kriegsverbrechertribunal.
Während einige Türken in jüngster Zeit an dem Tabu gekratzt haben, bleibt Ankara bei der Position, dass es keinen Völkermord gegeben habe. Es sei Notwehr gewesen; die Armenier hätten mit dem christlichen Zarenreich gemeinsame Sache machen wollen, hätten Aufstände geplant. Der führende Oppositionspolitiker, Deniz Baykal, sagt: „Wir können diese Beschuldigungen nicht akzeptieren, dass die Türkei für etwas verantwortlich gemacht wird, was sie nie gemacht hat.“ Für Außenminister Abdullah Gül ist der Vorwurf gleichbedeutend mit übler Nachrede. Als die französische Nationalversammlung 2001 in einem einstimmig angenommenen Gesetz den Genozid öffentlich anerkannte, beorderte Ankara prompt seinen Botschafter nach Hause.
Türkischer Autor als Verräter beschimpft
Als Orhan Parmuk, einer der angesehensten Autoren der Türkei, Anfang des Jahres erklärte, im Ersten Weltkrieg seien eine Million Armenier ermordet worden, erntete er einen Sturm der Entrüstung. Drei Klagen wurden gegen ihn mit der Begründung eingereicht, er habe der Türkei Schaden zugefügt. In Istanbul startete eine Schule eine Aktion, seine Bücher einzusammeln und an ihn zurückzugeben. In einer Abstimmung im Internet war die Mehrheit der Meinung, seine Erklärung sei eher Verrat als freie Meinungsäußerung gewesen.
Es gibt aber auch zarte Versuche zur Kontaktaufnahme mit Armeniern. Der Vorsitzende des Komitees für EU-Angelegenheiten, Yasar Yakis, hat Armenier eingeladen, vor seinem Gremium zu sprechen. „Wir reden beiderseits aneinander vorbei“, erklärt er. „Wenn wir vielleicht ein Klima schaffen, in dem wir uns zuhören, können wir uns vielleicht in der Mitte treffen.“
Aus dieser Quelle zur weiteren Verbreitung entnommen:
http://www.deutschlandfunk.de/deutsche-beteiligung-am-voelkermord-an-den-armeniern.730.de.html?dram:article_id=102524
Deutsche Beteiligung am Völkermord an den Armeniern
Für ein Dauerproblem im südlichen Kaukasus, also jenseits des Gebirgsmassivs, sorgt immer noch, nach knapp 100 Jahren, der Konflikt zwischen den Türken und den Armeniern. Während die Türkei, von vereinzelten Stimmen abgesehen, sich bis heute weigert die Schuld für einen Völkermord einzufordern, werden Exil-Armenier, aber auch die GUS-Republik Armenien, nicht müde, genau dies einzufordern. Selbst den angestrebten EU-Beitritt der Türkei belastet diese politische Amnesie Ankaras inzwischen. Weitgehend unbekannt hingegen ist immer noch, dass auch das deutsche Kaiserreich bei der – wie es hieß – „Armenier-Frage“ eine ganz eigene Rolle spielte. Damit beschäftigt hat sich Rolf Hosfeld: „Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern“.
- Die Gedenkstätte Tsitsernakaberd im armenischen Eriwan (AP Archiv)
Der „Schwalbenhügel“ in Jerewan, die Genozid-Gedenkstätte, ist Pflichtprogramm für jeden Besucher der armenischen Hauptstadt. Mächtige Steinplatten bilden einen Kreis, neigen sich nach innen. Daneben ragt ein 44 Meter hoher Dorn aus Granit in den blauen Himmel. Der Kreis symbolisiert das an die Türkei verlorene Westarmenien, die dünne Spitze hingegen die viel kleinere heutige Republik Armenien. Anfang des letzten Jahrhunderts wurden in der heutigen Türkei hundertausende Armenier massakriert. Rolf Hosfeld, Autor des Buches „Operation Nemesis“, hat keinen Zweifel, dass es sich bei den Ereignissen 1915 um einen zentral organisierten Völkermord handelte.
“ Es ist ja ein Thema, was zumindest von der türkischen Seite immer noch bestritten wird und da, glaube ich, ist es dann doch wichtig, dass man da nicht allgemein nur drüber erzählt, sondern dass man auch tatsächlich in die Details reingeht, soweit sie belegbar sind. Und sie sind belegbar, insbesondere durch die Dokumente, die man im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin findet, aber auch durch entsprechende Dokumente in Auswärtigen Ämtern in Washington oder auch in Wien beispielsweise, weil Wien war ja auch neben Deutschland Kriegsverbündeter der Türkei im Ersten Weltkrieg. „
Rolf Hosfelds Leistung besteht darin, dass er mit Hilfe dieser Quellen detailgetreu veranschaulicht, wie es zu dem Genozid kam und wie er ablief. Angefangen mit den ersten, wie er es nennt, „strategischen Morden“ 1895 noch unter Sultan Abdul Hamid. Formaler Auslöser dafür war damals eine Demonstration von Armeniern in Konstantinopel, heute Istanbul. Zum nächsten großen Massaker kam es im April 1909. Rund 20.000 Armenier wurden in der Gegend um Adana im Süden der heutigen Türkei niedergemetzelt. Und nur sechs Jahre später, 1915, kam es dann zu den Massenmorden und der systematischen Vertreibung der Armenier aus ganz Anatolien. Akribisch reiht Hosfeld in seinem Buch „Operation Nemesis“ die Ereignisse aneinander, zeichnet die diversen Gewaltwellen nach, rekonstruiert, wie einzelne Morde oder Überfälle zu Massenmorden ausarteten. Am Ende war ein ganzes Volk nahezu ausgerottet. Hosfeld bettet das Geschehen in den internationalen Kontext ein, in die angebliche Bedrohung des Osmanischen Reiches durch das Wegbrechen des Balkans und in den Ersten Weltkrieg. Seine Ausführungen belegt er stets korrekt durch entsprechende Zitate. Schade nur, dass er gelegentlich vage formuliert – zum Beispiel, wenn es um den Vorwurf der Türken geht, die Armenier aus der Region um Wan hätten sich im Krieg nicht loyal verhalten, sondern den Kriegsgegner Russland unterstützt.
“ Fast könnte man sagen, dass viele Armenier Wans loyaler waren als manche Türken. In den kurdischen Gebieten wird die Einberufung ohnehin nur unter größtem Widerstand befolgt, und die Zahl der Deserteure ist dort weit höher als unter Armeniern. Doch auch Türken ist das persönliche Wohlergehen oft wichtiger als der Dienst fürs Vaterland. „
In einem so sensiblen diplomatischen Feld wie der armenisch-türkischen Frage ist das fahrlässig. Gerade an solchen Stellen wäre es nötig gewesen, zumindest Zahlen anzuführen. Hosfelds Buch trägt den Untertitel „Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern“. Dementsprechend viel Raum nimmt die Frage ein, welche Rolle das Deutsche Reich bereits vor dem Ersten Weltkrieg und weit über das Kriegsende hinaus in dieser Tragödie gespielt hat. Autor Hosfeld:
“ Ich glaube, auch für die deutsche Politik gibt es spätestens seit dem 7. Juli 1915 nicht den geringsten Zweifel, dass das ein Völkermord gewesen ist. An diesem Tag hat der deutsche Botschafter nach Berlin gemeldet: Seiner Ansicht nach ist es die erklärte Absicht der türkischen Regierung, die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten. „
Zwar haben die deutschen Diplomaten regelmäßig nach Berlin berichtet, was in der Türkei geschieht, doch politische Reaktionen blieben damals aus.
“ Deutschland befindet sich an der Seite des Osmanischen Reichs im Krieg und da ist „Realpolitik“ angesagt. „Einen Bruch mit der Türkei wegen der armenischen Frage herbeizuführen“, betont der Unterstaatsekretär im Auswärtigen Amt, Zimmermann, „hielten und halten wir nicht für richtig.“ „
Die Solidarität der Deutschen mit dem damaligen Verbündeten Türkei ging sogar noch über das Kriegsende hinaus. Deshalb war es möglich, dass einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord, der ehemalige Großwesir Talaat Pascha, unbehelligt in der Berliner Fasanenstraße leben konnte, bis er 1921 von einem Angehörigen des armenischen Geheimkommandos „Nemesis“ erschossen wurde – jene „Operation Nemesis“, die Hosfeld als Titel für sein Buch wählte. Der Attentäter wurde vom Berliner Landgericht freigesprochen. Hosfeld lässt einen Zeitzeugen etwas kompliziert urteilen:
“ Rechtspolitisch war dieser Prozess von besonderer Bedeutung, weil zum ersten Mal in der Rechtsgeschichte der Grundsatz zur Anerkennung kam, dass grobe Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Völkermord, begangen durch eine Regierung, durchaus von fremden Staaten bekämpft werden können und keine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Staates bedeuten. „
Mit anderen Worten: Deutschland hat zwar während des Völkermords versagt, aber immerhin die Lynchjustiz an einem der Verantwortlichen gebilligt. Leider sind klare Worte nicht die Stärke des Buches, und deshalb gehen manche erhellenden Gedanken unter. Hosfelds Buch belegt einmal mehr: Es gibt nichts zu leugnen am Völkermord. Das allein macht es wert, das Buch zu lesen. Proteste von türkischer Seite gegen das Werk sind bisher ausgeblieben. Selbst der Autor ist darüber erstaunt:
„…weil: Ich habe früher selbst bei kleineren Veröffentlichungen in irgendwelchen Zeitungen oder Zeitschriften immer irgendwelche Reaktionen zu verspüren bekommen, aber diesmal nicht, und ich glaube, das hängt damit zusammen, dass auch der Umgang, auch durch den europäischen Einigungsprozess und das Bedürfnis, der Europäischen Union beizutreten, sich doch etwas zivilisiert hat. Ich denke, dass ein unbefangenes und offenes Verhältnis zur eigenen Geschichte auch eine Bedingung dafür ist, dass die Türkei zu einem wirklichen demokratischen Staat sich entwickelt. Und das ist in erster Linie eine Frage ihres eigenen Interesses. „
Die Detailversessenheit und die Menge von Zitaten machen die Lektüre von Hosfelds Buch anstrengend. Hinzu kommt: Der Autor setzt unglaublich viel Geschichtswissen voraus. Eine Zeittafel hätte dem Ganzen sicher gut getan, zu leicht verliert der Leser sonst den Überblick.
Rolf Hosfeld: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 368 S., EUR 19,90
Aus dieser Quelle zur weiteren Verbreitung entnommen: http://www.geo.de/GEO/heftreihen/geo_epoche/ein-verleugnetes-verbrechen-72514.html
Ein verleugnetes Verbrechen
Im November 1914 tritt das krisengeschwächte Osmanische Reich in den Ersten Weltkrieg ein. Als sich ein halbes Jahr später eine kleine Gruppe von Armeniern gegen die türkische Herrschaft erhebt, antwortet die Regierung mit beispielloser Gewalt: Ihre Schergen treiben die Angehörigen der christlichen Minderheit in Todesmärschen Richtung Süden. Dabei sterben mehr als eine Million Menschen – ein Völkermord, den die Türkei bis heute leugnet
Der Genozid an den Armeniern ist der erste millionenfache Mord des 20. Jahrhunderts. Ein Verbrechen von ungeheuerlichen Dimensionen – befohlen von der Regierung des Osmanischen Reiches. Es beginnt mehr als 1000 Kilometer von den Hauptsiedlungsgebieten der Armenier entfernt: in Istanbul. In der Nacht des 24. April 1915 verhaften Polizisten mehr als 200 Angehörige der armenischen Hauptstadt-Elite – Abgeordnete, Journalisten, Lehrer, Ärzte, Apotheker, Kaufleute und Bankiers. Das Osmanische Reich ist ein halbes Jahr zuvor in den Ersten Weltkrieg eingetreten; angeblich kollaborieren die Festgenommenen mit dem Feind. Auch in vielen Provinzstädten werden armenische Notabeln ins Gefängnis geworfen, gefoltert und zur Abschreckung öffentlich hingerichtet. Doch das ist nur der Prolog der eigentlichen Mordaktion.
Des Versuchs, ein ganzes Volk auszulöschen.
Bis ins späte 19. Jahrhundert hinein haben Armenier vielerorts eine gehobene Stellung im Osmanischen Reich errungen. Zwar bleiben den Angehörigen dieses christlichen Volkes – wie allen Nichtmuslimen – über Jahrhunderte Karrieren im Staatsdienst verschlossen. Doch bringen es zahlreiche Armenier zu beachtlichem Wohlstand. Sowohl im Hochland Ostanatoliens als auch in der Kapitale Istanbul kontrollieren sie wichtige Teile der Ökonomie: die Seidenindustrie und Textilproduktion, die moderne Landwirtschaft, die Schiffbau- und Tabakindustrie. Sie etablieren daneben auch das moderne Theater und die Oper im Reich und verfassen die ersten osmanischen Romane. Neun Zeitungen erscheinen in Istanbul auf Armenisch, nur 13 auf Türkisch. (Die Metropole zählt 1914 mehr als 900.000 Einwohner, von denen etwa zehn Prozent Armenier sind.) Und seit dem Reformdekret von 1856, das allen osmanischen Bürgern unabhängig von der Religion Zugang zu hohen Staatsämtern ermöglicht, finden sich auch dort immer mehr Armenier. Doch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts beginnt sich das Verhältnis zwischen Armeniern und osmanischer Staatsführung entscheidend zu verschlechtern.
Denn als Sultan Abdülhamid II. 1877 Krieg gegen Russland führt, bitten die armenischen Führer den Zaren darum, ihre Gebiete in Anatolien dauerhaft zu besetzen oder ihnen eine autonome Verwaltung zu verschaffen, doch ohne Erfolg. Im Friedensvertrag nach der katastrophalen Niederlage allerdings muss die Hohe Pforte, die osmanische Regierung, im folgenden Jahr zugestehen, die christliche Minderheit besonders zu schützen und Reformen zu ihren Gunsten ins Leben zu rufen – die von Europäern überwacht werden sollen.
Eine schwere Demütigung des Sultans, dessen Vielvölkerreich immer schneller zerfällt: Bereits 1875 hat der Großwesir als Regierungschef den Staatsbankrott erklärt, die Verwaltung der öffentlichen Schulden wird daraufhin unter europäische Aufsicht gestellt. Im folgenden Jahr erheben sich Serben, Montenegriner und Bulgaren gegen die türkische Herrschaft. Und mit dem Berliner Vertrag verlieren die Osmanen 1878 weite Teile ihrer Besitzungen auf dem Balkan.
Abdülhamid II., seit 1876 auf dem Thron, sieht in den Aufständen seiner christlichen Untertanen und dem Eingreifen der Europäer eine Verschwörung gegen sein Reich und den Islam. Als dann armenische Revolutionäre, die für einen eigenen Staat kämpfen, Terroranschläge gegen osmanische Beamte verüben und Freischärler-Truppen aufstellen, schlägt der Sultan hart zu. Kurdische Reitermilizen unterdrücken 1894 brutal die Aufstände, zerstören Dörfer der Rebellen und ermorden zahlreiche Zivilisten. In Anatolien sowie in der Hauptstadt verüben Muslime in den folgenden Jahren Massaker an den Armeniern – möglicherweise auf direkten Befehl des Monarchen, wie manche Historiker vermuten. Mindestens 80.000 Menschen sterben.
Nach wenigen Jahren einer gespannten Ruhe verschärft sich die Konfrontation zwischen Minderheit und Staatsleitung dramatisch, als sich 1913 die Führer des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ (KEF), Enver Pascha, Cemal Pascha und Talat Bey, an die Regierung putschen.
Das Komitee ist ein besonders nationalistischer Teil der jungtürkischen Bewegung, die 1909 Abdülhamid II. vom Thron gestoßen und durch dessen altersschwachen Bruder Mehmed V. ersetzt hat; seitdem ist der Sultan nur mehr Repräsentationsfigur. Die neuen Machthaber, ein Triumvirat aus zwei hohen Offizieren und einem ehemaligen Telegraphenbeamten, herrschen fortan mit diktatorischer Gewalt.
Sie wollen das zerbrechende osmanische Imperium um jeden Preis erhalten; alles Streben nach Autonomie ist für sie Verrat. Sie glauben an die Überlegenheit der türkischen Nation gegenüber anderen Völkern. Und sie wollen einen Staat schaffen, der rein türkisch-muslimisch ist – auch mit Gewalt.
Diese Ideologie wird umso kompromissloser propagiert, als im Vorjahr das Reich abermals eine schmähliche Niederlage erlitten und (bis auf kleine Reste) sämtliche Territorien auf dem Balkan verloren hat. Nach mehr als 500 Jahren ist damit die Herrschaft der Osmanen auf der Halbinsel beendet. Hunderttausende muslimische Flüchtlinge drängen nun nach Anatolien und besonders in die armenischen Gebiete.
Glaubensbrüder, für die neue Existenzgrundlagen geschaffen werden müssen – durch Enteignung und Vertreibung der Christen. Der Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns im November 1914 radikalisiert die türkischen Nationalisten noch weiter: Der Gouverneur der Provinz Diyarbakr, ein Mediziner, nennt die Armenier eine Menge „schädlicher Mikroben, die den Körper des Vaterlandes befallen“ hätten. Und fragt, ob es nicht die Pflicht eines Arztes sei, die Mikroben zu töten.
Diplomatische Rücksichten auf das westliche Ausland muss die Regierung im Krieg nicht mehr nehmen. Zudem liefert ihr das Geschehen an der Kaukasusfront einen Vorwand zum Schlag gegen die Armenier. Dort greift im tiefen Winter eine Armee unter Kriegsminister Enver die Russen an. Die Offensive wird zum Fiasko: Mehr als drei Viertel der türkischen Soldaten kommen in der Kälte um.
Als sich in Erwartung des russischen Vorstoßes Anfang April 1915 in der Stadt Van die Armenier gegen die osmanische Herrschaft erheben, die dort stationierte Garnison vertreiben und die örtliche Festung sowie öffentliche Gebäude zerstören, bricht in Istanbul Panik aus. Die Regierungspropaganda macht aus dem begrenzten Aufstand einen allgemeinen Aufruhr, einen Hochverrat, der die Vernichtung des Reiches beabsichtige.
In dieser Situation wird aus dem Vorhaben zur Herstellung einer einheitlichen türkischen Bevölkerung der konkrete Plan zum Genozid, wird aus vereinzelten Massakern, die irreguläre Einheiten bereits seit Kriegsbeginn an Armeniern verüben, der organisierte Völkermord: In den Tagen zwischen dem Zusammenbruch der Kaukasusfront und der Landung der Westalliierten an den Dardanellen nahe der Hauptstadt am 25. April 1915 fällt vermutlich im Zentralkomitee des KEF der Entschluss, das Armenierproblem „auf eine umfassende und vollständige Weise zu beseitigen“, wie es später in einem Memorandum des Innenministeriums heißt.
Der erste Akt des Staatsverbrechens ist die Festnahme der armenischen Eliten. Der Verhaftungswelle schließt sich unmittelbar die Order zur Ausweisung an. Innenminister Talat befiehlt den Provinzgouverneuren, die gesamte armenische Bevölkerung in die zum Osmanischen Reich gehörenden Wüsten Syriens und Mesopotamiens zu deportieren.
Gleichzeitig legen Sonderbeauftragte des KEF-Zentralkomitees den Statthaltern mündlich und unter strengster Geheimhaltung den eigentlichen Plan dar: Alle armenischen Männer und älteren Jungen sollen zusammengetrieben und ermordet, die Frauen und Kinder verschleppt werden. Auch ihr Tod – durch Krankheit, Hunger, Kälte – ist einkalkuliert.
Offizielle Dokumente künden nicht von den Instruktionen zum Massenmord, die Talat und andere Regierungsmitglieder erlassen. Zu ungeheuerlich sind wohl solche Schandtaten, als dass jemand mit seiner Unterschrift Verantwortung dafür übernehmen würde.
Dennoch existieren einige amtliche Zeugnisse, die die Beteiligung zahlreicher staatlicher Stellen an politischen Maßnahmen gegen die Armenier belegen. Und es gibt zahllose Berichte von Augenzeugen: von Deutschen, die etwa als Diplomaten oder Krankenschwestern im verbündeten Osmanischen Reich tätig waren; von amerikanischen Konsuln; und von Armeniern, die den Genozid überlebten.
Sie zeichnen ein deutliches Bild von dem, was sich seit April 1915 zunächst in Anatolien, dann auch an Euphrat und Tigris abspielt.
„Unsere Vorbehalte gegen die Armenier beruhen auf drei unterschiedlichen Gründen. Zum Ersten haben sie sich auf Kosten der Türken bereichert. Zweitens sind sie entschlossen, uns zu bevormunden und einen eigenen Staat zu gründen. Drittens haben sie offen unsere Feinde unterstützt. Sie haben den Russen im Kaukasus geholfen; unsere Niederlage dort lässt sich weitgehend durch ihre Taten erklären. Wir sind daher zu der unwiderruflichen Entscheidung gekommen, dass wir ihnen ihre Macht nehmen werden, bevor der Krieg beendet ist. Wir werden keine Armenier mehr irgendwo in Anatolien dulden. Sie können in der Wüste leben, aber sonst nirgendwo.“
Innenminister Talat im Gespräch mit US-Botschafter Henry Morgenthau sen., Anfang August 1915
„Ein Muslim, der einen Armenier beschützt, soll vor seinem Haus exekutiert und sein Heim niedergebrannt werden. Wenn er ein Beamter ist, wird er entlassen und kommt vors Kriegsgericht; Angehörige des Militärs, die es für richtig halten, so jemanden zu schützen, werden wegen Befehlsverweigerung vors Kriegsgericht gestellt und abgeurteilt.“
General Mahmud Kamil Pascha, Kommandeur der 3. Armee
„Als sie kamen und uns zu gehen befahlen, überraschte uns das. Drei Tage vorher hatten wir noch nachgesehen, ob die Trauben reif genug waren, um gesegnet zu werden. Da war alles noch so friedlich. Nur drei Tage später verkündete der städtische Ausrufer, dass wir den Ort verlassen müssten und dass sie uns Karren bereitstellen würden, um uns wegzutransportieren. In diesen drei Tagen mussten wir uns bereit machen und verkaufen, was wir konnten.“
Ein Überlebender
„Die Menschen bereiteten sich darauf vor, ihre Heimat zu verlassen und ihre Häuser, Grundstücke und Besitztümer aufzugeben. Sie versuchten, ihre Möbel und bewegliche Habe, Lebensmittel und Kleidung zu verkaufen, da sie nur sehr wenig mitnehmen konnten. Sie gaben ihre Sachen für jeden Preis weg, den sie bekommen konnten. Die Straßen waren voller türkischer Frauen und Männer auf der Jagd nach Gelegenheiten, die Nähmaschinen, Möbel, Teppiche und andere wertvolle Dinge für fast nichts erwarben. Nähmaschinen, die 25 Dollar gekostet hatten, wurden für 50 Cent verkauft. Wertvolle Teppiche wurden für weniger als einen Dollar verscherbelt. Die Szene erinnerte mich an Geier, die sich auf ihre Beute stürzen.“
Leslie Davis, US-Konsul in Harput, Ostanatolien
Die Provinz Erzurum im Nordosten Anatoliens hat einen besonders hohen armenischen Bevölkerungsanteil und ist im Mai 1915 wegen ihrer Lage direkt an der russischen Grenze eine der ersten Gegenden, aus denen die Menschen deportiert werden.
Was dort geschieht, wiederholt sich später immer wieder in ähnlicher Weise: Ein Komitee, bestehend aus dem lokalen Polizeichef, einem hohen Beamten der Provinzverwaltung, einem Vertreter des KEF sowie anderen Männern, fertigt Listen der Armenier an und fordert diese auf, sich für die bevorstehende „Umsiedlung“ bereitzuhalten, während gleichzeitig Spezialeinheiten im Umland Massaker verüben. Bis Ende Juni treiben Gendarmen die armenischen Bewohner der ost- und zentralanatolischen Dörfer zusammen und schicken sie in streng bewachten Konvois von bis zu 10.000 Menschen auf den Weg in das rund 600 Kilometer entfernte Aleppo in Nordsyrien – zu Fuß. Später werden die armenischen Gemeinden in Westanatolien zumeist per Zug verschleppt; sie fahren in Wagen der Bagdadbahn Richtung Südosten. Nach den Dorfbewohnern wird auch die armenische Bevölkerung der Städte in mehreren Schüben deportiert.
„Einigen wohlhabenden Armeniern wurde [am 11. Juli 1915] eröffnet, dass sie in drei Tagen mit der gesamten Bevölkerung die Stadt zu verlassen hätten, aber all ihre Habe, die nunmehr der Regierung gehörte, zurücklassen müssten. Ohne den Ablauf dieser Frist abzuwarten, begannen die Türken schon nach zwei Stunden, in die armenischen Häuser einzudringen und zu plündern. Montag, den 12., hielt das Geschütz- und Gewehrfeuer den ganzen Tag an. Am Abend drangen Soldaten in das Mädchenwaisenhaus ein, um nach versteckten Armeniern zu suchen. Beim Versuch, das Hoftor zu schließen, wurden eine Frau und ein Waisenmädchen neben der Schwester Johansson durch Kugeln getötet. Mittwoch früh begab sich die Genannte zum örtlichen Gouverneur, um Schutz und Schonung für die Anstalt und ihre Insassen zu erlangen. Der Statthalter gebärdete sich wie ein Rasender und lehnte die Bitte schroff ab. Nach Räumung der Stadt wurde das armenische Viertel in Brand gesteckt und dem Erdboden gleichgemacht; ebenso die armenischen Dörfer.“
Bericht von Alma Johansson, einer schwedischen Schwester in deutschen Diensten in Mus, Ostanatolien, aufgezeichnet vom deutschen Generalkonsul in Istanbul Johann Mordtmann
„Die schönsten der älteren Mädchen werden hier in Häuser gesperrt – zum Vergnügen der Mitglieder jener Bande, die hier anscheinend die Kontrolle hat. Ein hiesiges Mitglied des Komitees für Einheit und Fortschritt hält in einem Haus im Stadtzentrum zehn der hübschesten Mädchen gefangen, damit er und seine Freunde sich an ihnen vergehen können.“
Oscar S. Heizer, US-Konsul in Trabzon, Nordostanatolien, 28. Juli 1915
„Unser Trupp brach am 14. Juni auf. Er zählte 400 bis 500 Personen, 15 Gendarmen begleiteten uns. Wir waren kaum zwei Stunden von der Stadt entfernt, als Banden von Dorfbewohnern und Banditen in großer Zahl mit Büchsen, Gewehren, Äxten uns auf der Straße umzingelten und alles raubten, was wir mit uns hatten. Darauf trennten sie die Männer von uns. Im Verlauf von sieben bis acht Tagen töteten sie einen nach dem anderen. Keine männliche Person über 15 Jahren blieb übrig. Zwei Kolbenschläge genügten, um einen abzutun. Die Banditen griffen alle gut aussehenden Frauen und Mädchen und entführten sie auf ihren Pferden. Sehr viele Frauen und Mädchen wurden so in die Berge geschleppt, unter ihnen meine Schwester, deren ein Jahr altes Kind sie fortwarfen. Wir durften nachts nicht in den Dörfern schlafen, sondern mussten uns außerhalb derselben auf der bloßen Erde niederlegen. Um ihren Hunger zu stillen, sah ich die Leute Gras essen. Im Schutze der Dunkelheit wurde von den Gendarmen, Banditen und Dorfbewohnern Unsagbares verübt.“
Eine armenische Witwe aus der nordostanatolischen Kleinstadt Bayburt
„Sie wiesen die Männer und Jungen an, sich von den Frauen zu trennen. Einige Knaben waren wie Mädchen gekleidet und versteckten sich. Sie blieben zurück. Doch mein Vater musste gehen. Er war ein Erwachsener mit einem Schnurrbart. Sobald sie die Männer separiert hatten, kam von der anderen Seite des Hügels eine Gruppe Bewaffneter und tötete alle Männer vor unseren Augen. Sie ermordeten sie mit Bajonetten, die sie ihnen in den Bauch stießen. Viele Frauen konnten das nicht ertragen und stürzten sich in den Fluss.“
Ein Überlebender aus Konya, Zentralanatolien
„Die Leichen auf den Straßen sollen vergraben werden, nicht in Seen, Brunnen oder Flüsse geworfen, und ihre Habseligkeiten sollen verbrannt werden.“
Anweisung des Innenministers Talat, 21. Juli 1915
„Wer zurückfiel, wurde sofort erschossen. Sie trieben uns durch einsame Gegenden, durch die Wüsten und auf Bergpfaden, damit wir nicht in die Nähe von Städten kamen, wo wir Wasser und Nahrung hätten bekommen können. Nachts wurden wir nass vom Tau und am Tage von der Sonne versengt. Ich erinnere mich, dass wir liefen und liefen.“
Ein Überlebender
„Am 52. Tag kamen sie in einem anderen Dorf an; dort nahmen ihnen die Kurden alles, was sie hatten, sogar Hemden, und fünf Tage lang musste der ganze Zug unter der glühenden Sonne nackt marschieren. Weitere fünf Tage lang gab es weder ein Stück Brot noch einen Tropfen Wasser. Aberhunderte fielen tot um, ihre Zungen waren wie Holzkohle; und als sie am Ende des fünften Tages einen Brunnen erreichten, stürzte sich natürlich die gesamte Karawane darauf, doch die Polizisten stellten sich ihnen in den Weg und verboten ihnen, auch nur einen Tropfen Wasser zu trinken, denn sie wollten das Wasser verkaufen, für eine bis drei Lira je Tasse, und manchmal gaben sie nicht einmal das Wasser heraus, nachdem sie das Geld erhalten hatten.“
Ein Überlebender aus Harput, Ostanatolien
„An jedem Bahnhof, an dem wir hielten, standen wir neben einem dieser Züge. Sie bestanden aus Viehwaggons, und die Gesichter kleiner Kinder sahen durch die winzigen, vergitterten Fenster jedes Waggons heraus. Die Seitentüren standen offen, und man konnte eindeutig alte Männer und alte Frauen, junge Mütter mit kleinen Babys, Männer, Frauen und Kinder erkennen, die alle zusammengepfercht waren wie Schafe oder Schweine.“
Anna Harlow Birge, Amerikanerin, von der US-Kommission für ausländische Missionen, auf der Fahrt nach Istanbul, November 1915
„Eine der ersten Leichen, die wir sahen, war die eines alten Mannes mit einem weißen Bart, dessen Schädel von einem großen Stein eingeschlagen worden war, der immer noch darin steckte. Etwas weiter sahen wir die Asche von sechs oder acht Menschen, nur Fragmente von Knochen und Kleidung waren nicht verbrannt. Ein roter Fez fiel besonders auf. Wir schätzten, dass wir während unseres Rittes um den See, im Zeitraum von 24 Stunden, nicht weniger als 10.000 Armenier gesehen hatten, die nahe dem Gölcük-See ermordet worden waren.“
Leslie Davis, US-Konsul in Harput
„Auf der Strecke Bogazlyan–Erkilet [Zentralanatolien] haben die sechs Gendarmen, die zur Bewachung mitkamen, am 22. August von der Verbannten-Karawane Geld verlangt. Die 120 Familien haben zusammen zehn Lira gesammelt, um sich auf diese Weise von der Lebensgefahr zu befreien. Die Gendarmen, erzürnt wegen des geringen Betrages, haben alle Männer, etwa 200 Personen, von den Frauen getrennt und in ein Gasthaus gesperrt. Die Gendarmen haben dann die Leute gruppenweise gefesselt aus der Herberge herausgebracht, ihnen alles bare Geld geraubt und sie im gefesselten Zustand in ein nahe liegendes Tal geschickt. Durch Gewehrschüsse haben später die Gendarmen den benachbarten, schon in Bereitschaft stehenden türkischen Mörderbanden Zeichen zum Sturm gegeben. Alle Männer und Jünglinge über zwölf Jahren sind durch Keulenhiebe, mit Steinen, Säbeln, Dolchen und Messern gemartert und umgebracht worden, und dies alles ist vor den Augen der Frauen und Kinder geschehen.“
Aussage von sechs armenischen Frauen aus Hacköy, aufgezeichnet von Eugen Büge, deutscher Konsul in Adana, 1. Oktober 1915
Immer wieder senden deutsche Diplomaten Berichte nach Berlin, in denen sie Verlauf und Ausmaße der Armeniergräuel schildern. Doch die kaiserliche Regierung entscheidet sich bewusst gegen eine Einmischung in die Angelegenheiten des wichtigen Kriegsverbündeten. Auf die dringende Bitte des deutschen Botschafters in Istanbul, Paul Graf Wolff-Metternich, den Völkermord öffentlich anzuprangern, erwidert Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.“ Mehrere deutsche Offiziere sind als osmanische Militärberater zudem an wichtigen Entscheidungen über Deportationen beteiligt.
Auch die Verwandlung christlicher Armenier in muslimische Türken ist ein zentrales Element des Planes, die Bevölkerung Anatoliens zu vereinheitlichen. Es ist unklar, wie viele armenische Frauen zwangsweise verheiratet und wie viele Kinder von türkischen Familien aufgenommen oder in eigens eingerichtete Waisenhäuser zur Umerziehung eingewiesen werden, möglicherweise sind es 200.000. Tausende Mädchen werden versteigert, die Vermittlung von armenischen Frauen ist eine Haupteinnahmequelle für Begleitmannschaften der Deportationszüge.
„Als die Deportierten ankamen, wurde der Treck vor dem Regierungsgebäude gestoppt. Alle Jungen und Mädchen wurden den Müttern weggenommen und nach drinnen gebracht; anschließend wurde der Treck gezwungen weiterzuziehen. Dann wurde in den umgebenden Dörfern bekannt gemacht, dass jeder kommen und sich unter den Kindern bedienen dürfe.“
Zaven Der Yeghiayan, armenischer Patriarch von Istanbul, 15. August 1915
„Die Türken haben alle reifen Mädchen und jungen Frauen weggeführt und geschändet. Zwei Mädchen haben sich gewehrt und sind seitens der Gendarmen so misshandelt worden, dass sie den Tod fanden. Ein Mädchen namens Rosa Kirasian hat sich einem Gendarmen ergeben. Dieser soll versprochen haben, dem Mädchen kein Leid zu tun und es seinem Bruder zur Frau zu geben. Die Türken aus Erkelet haben 50 Mädchen sowie zwölf Knaben weggeführt.“
Aussage von sechs armenischen Frauen aus Hacköy, September 1915
„Ende Juli 1915, als das Thermometer zwischen 40 und 46 Grad Celsius anzeigte, wurde eine Gruppe von mehr als 1000 Frauen und Kindern aus Harput verschleppt; östlich von Diyarbakr wurden sie einer Bande Kurden ausgeliefert, die die schönsten Frauen, Mädchen und Kinder auswählten. Voller Furcht vor dem Schicksal, das sie in der Gewalt solcher grausamer Unmenschen erwarten würde, wehrten sich die Frauen, so gut sie konnten, wodurch sie die Kurden erzürnten, die etliche ihrer Opfer ermordeten. Bevor sie die schließlich Ausgewählten und Überwältigten wegtrugen, nahmen sie den meisten anderen Frauen die Kleider und zwangen sie so, den Treck nackt fortzusetzen.“
Jesse B. Jackson, US-Konsul in Aleppo
„Nach dem Massaker hielten Türken und Kurden unter den Toten nach Beute Ausschau. Ein Mann durchsuchte auch mich und bemerkte, dass ich noch lebte. Er nahm mich mit nach Hause, ohne dass es jemand bemerkte. Er änderte meinen Namen und gab mir einen türkischen, Ahmad. Er lehrte mich, Türkisch zu beten. Ich wurde ein Türke und lebte dort fünf Jahre lang.“
Ein Überlebender
Erste Station der Deportationstrecks sind Übergangslager im Umland von Aleppo, in denen Zehntausende an Hunger, Durst und immer wieder ausbrechenden Epidemien sterben. Von dort werden die Armenier durch das lebensfeindliche Wüstenland entlang des Euphrat von einem rasch errichteten Camp zum nächsten weitergetrieben. Das letzte und größte dieser Lager liegt außerhalb der Stadt Der Zor (heute: Dayr az-Zawr). Als im Frühjahr 1916 die Übergangslager in Aleppo aufgelöst werden und täglich Tausende in Der Zor eintreffen, wächst die Zahl der auf engstem Raum zusammengepferchten Vertriebenen auf über 200.000 Menschen an. Innenminister Talat setzt kurz darauf einen neuen, als besonders brutal geltenden Provinzgouverneur ein, der sofort Massaker verüben lässt. Im Dezember 1916 ist nach den Mordaktionen des Vorjahres auch diese zweite Welle der Auslöschung abgeschlossen. Das Lager bleibt allerdings bis Kriegsende bestehen. Als britische Soldaten im Oktober 1918 in Der Zor einziehen, finden sie nur noch 1000 Menschen vor, die meisten von ihnen krank und halb verhungert.
„Die Leute schlachten und essen die Straßenhunde. Kürzlich haben sie einen sterbenden Mann geschlachtet und gegessen, dies erzählte mir ein Augenzeuge. Eine Frau hat ihr Haar abgeschnitten und es um Brot verkauft. Eine Frau sah ich, wie sie das auf der Straße geronnene Blut eines Tieres aß. Bis jetzt nährten sich alle von Gras, aber auch dies ist jetzt vertrocknet. Letzte Woche kamen wir in ein Haus, dessen Einwohner seit drei Tagen nichts gegessen hatten. Die Frau hielt ein kleines Kind auf dem Arm und versuchte, ihm eine Brotkrume zu essen zu geben, das Kind konnte nicht mehr, es röchelte und starb in ihren Armen.“
Araxia Djibedjian, armenische Mitarbeiterin der deutschen Mission in Der Zor, 22. Juni 1916
„Die Zahl der Toten in der Stadt war so groß, dass die Beamten des Gesundheitsamtes nicht mit der Situation fertig wurden und das Militär große Ochsenkarren bereitstellte. In die Fuhrwerke wurden die Leichen geworfen, zehn bis zwölf in jedes, und die Prozession aus sieben oder acht Karren fuhr zum nahe gelegenen Friedhof mit ihren grausigen Ladungen aus scheußlich unbedeckten Leichen, meist nackt, die Köpfe, Beine und Arme hingen seitlich und hinten aus den offenen Wagen heraus.“
Jesse B. Jackson, US-Konsul in Aleppo
„Am 31. Januar um elf Uhr vormittags war ich von Der Zor abgefahren. Drei Stunden lang sehe ich keine einzige Leiche und hoffe schon, die Erzählungen möchten übertrieben sein.
Dann aber beginnt die grauenvolle Leichenparade:
1.00 Uhr nachmittags: Links am Wege liegt eine junge Frau. Nackt, nur braune Strümpfe an den Füßen. Rücken nach oben. Kopf in den verschränkten Armen vergraben.
1.30 Uhr nachmittags: Rechts am Wege in einem Graben ein Greis mit weißem Bart. Nackt. Auf dem Rücken liegend. Zwei Schritt weiter ein Jüngling. Nackt. Rücken nach oben. Linkes Gesäß herausgerissen.
2.00 Uhr: fünf frische Gräber. Rechts ein bekleideter Mann. Geschlechtsteil entblößt.
2.05 Uhr: rechts ein Mann, Unterleib und blutendes Geschlechtsteil entblößt.
2.07 Uhr: rechts ein Mann in Verwesung.
2.08 Uhr: rechts ein Mann, vollkommen bekleidet, auf dem Rücken, Mund weit aufgerissen, Kopf nach hinten gestemmt, schmerzentstelltes Gesicht.
2.10 Uhr: rechts ein Mann, Unterkörper bekleidet, Oberkörper angefressen.
2.15 Uhr: Spur einer Abkochstelle. Überall auf dem Wege Wäschefetzen.
2.25 Uhr: links am Wege eine Frau, auf dem Rücken liegend, Oberkörper in einen um die Schultern genommenen Schal eingehüllt, Unterkörper angefressen, nur die blutigen Schenkelknochen ragen noch aus dem Tuch.
3.10 Uhr: Spuren einer Abkochstelle und eines Lagerplatzes. Viele Wäschefetzen. Feuerstellen, ein Kohlenbecken. Sechs Männerleichen, nur noch mit Hosen bekleidet, Oberkörper nackt, liegen um eine Feuerstelle.
3.22 Uhr: 22 frische Gräber.
3.25 Uhr: rechts ein bekleideter Mann.
3.28 Uhr: links ein nackter Mann, angefressen.
3.45 Uhr: blutiges Skelett eines etwa zehnjährigen Mädchens, langes blondes Haar noch dran, liegt mit weit geöffneten Armen und Beinen mitten auf dem Weg.
3.55 Uhr: links vollkommen bekleideter Mann mit schwarzem Bart, mitten auf dem Wege auf dem Rücken liegend, als sei er eben vom Felsblock, der links am Wege [liegt], abgestürzt.
4.03 Uhr: rechts eine Frau, in ein Tuch eingehüllt, an sie gekauert ein etwa dreijähriges Kind in blauem Kattunkleidchen. Kind wohl neben der zusammengebrochenen Mutter verhungert.
4.10 Uhr: 17 frische Gräber.
5.02 Uhr: Ein Hund frisst an einem Menschenskelett.“
Bericht des deutschen Konsuls Wilhelm Litten über eine Reise von Bagdad nach Aleppo
„Ich werde euch Konvoi auf Konvoi von Armeniern liefern. Was auch immer sie an Gold, Geld, Schmuck und Wertsachen bei sich tragen, werden wir uns gemeinsam nehmen. Ihr werdet sie mit Flößen über den Tigris fahren. Wenn ihr an einen Ort kommt, an dem niemand es sieht oder hört, werdet ihr sie alle töten und ihre Leichen in den Tigris werfen. Ihr werdet ihre Bäuche aufschneiden und sie mit Steinen füllen, damit sie nicht an die Oberfläche treiben. Was ihr an Habseligkeiten findet, geht an euer Volk. Und vom Gold, Geld und den Edelsteinen gehört euch die Hälfte, die andere Hälfte werdet ihr mir bringen.“
Ansprache des Gouverneurs von Diyarbakr (Südostanatolien), des früheren Arztes Res¸id Bey, an die Stammesführer der dort siedelnden Raman, überliefert von einem Angehörigen des Stammes
„Am nächsten Tag bei der Mittagsrast trafen wir auf ein ganzes Armenierlager. Die armen Leute hatten sich primitive Ziegenhaarzelte gemacht, unter denen sie rasteten. Zum größten Teil lagen sie aber schutzlos auf dem glühenden Sand unter sengender Sonne. Der vielen Kranken wegen hatten die Türken einen Ruhetag erlaubt. Etwas Trostloseres wie solche Volksmenge in der Wüste unter den gegebenen Umständen kann man sich gar nicht vorstellen. Unerträglich müssen die Durstqualen der armen Menschen sein.“
Laura Möhring, deutsche Krankenschwester, 12. Juli 1915
„Da viele kleine Kinder noch am Leben waren und rund um ihre toten Eltern umherirrten, wurden die Çeten [Todesschwadronen, gebildet aus für diesen Zweck entlassenen Strafgefangenen und Kurden] ausgesandt, um sie zu umstellen und zu töten. Sie fingen Tausende von Kindern und brachten sie ans Ufer des Euphrat, wo sie sie an den Füßen ergriffen und ihre Köpfe gegen die Felsen schmetterten.“
Griechischer Augenzeuge
„Am nächsten Morgen kam eine Schar berittener Tscherkessen und umringte die Karawane – sie nahmen ihnen alles weg, was sie noch bei sich führten, und rissen ihnen die Kleider vom Leibe. Darauf wurde der ganze Haufen, Männer, Frauen, Kinder, nackt weitergetrieben, drei Stunden weit, bis zum Karadag [ein Berg am Chabur, einem Zufluss des Euphrat]. Dort warfen sich die Tscherkessen zum zweiten Mal auf ihre Opfer, mit Beilen, Säbeln, Dolchen hieben sie in die Menge hinein, bis das Blut wie ein Strom floss und die ganze Ebene mit verstümmelten Leichen bedeckt war. Hosep sah, wie der Gouverneur von Der Zor von einem Wagen aus alles beobachtete und durch lautes Bravo-Rufen die Schlächter ermutigte. Hosep warf sich unter einen Leichenhaufen. Als sich nichts mehr regte, machten sich die Tscherkessen auf und davon. Nach drei Tagen krochen 31 noch lebende Menschen aus ihrem grausigen Versteck hervor. Noch drei Tage galt es, zu wandern ohne Wasser und Brot bis zum Euphrat. Einer nach dem andern blieb ermattet liegen, nur Hosep gelang es endlich, als Derwisch verkleidet, Aleppo zu erreichen.“
Bericht des Überlebenden Hosep Sarkissian aus Antep in Südostanatolien
„Als wir auf das Dorf zuliefen, war die Straße auf beiden Seiten voll von Leichen. Ich habe mit eigenen Augen Tausende Leichen gesehen. Ich sah nicht, wie sie getötet wurden, aber ich sah die Toten. Es war Sommer, und so schmolz das Körperfett der Leichen. Es war so schlimm, dass es überall zu stinken begann, sodass [die Türken] alle Leichen aufsammelten, mit Kerosin übergossen und verbrannten.“
Ein Überlebender
„Am Euphrat warfen die Gendarmen alle noch übrigen Kinder unter 15 Jahren in den Fluss. Die schwimmen konnten, wurden erschossen, als sie mit den Wellen kämpften.“
Eine armenische Witwe aus Bayburt
Im Dezember 1916 beenden die osmanischen Führer ihre Vernichtungskampagne gegen die Armenier und beginnen, ihre Spuren zu verwischen. Die meisten Lager sind bereits aufgelöst, in Anatolien leben offiziell so gut wie keine Armenier mehr (einige Zehntausend können sich nach Russland retten). Von den insgesamt mehr als 1,2 Millionen Deportierten sterben etwa 700.000 auf den Todesmärschen; noch einmal rund 300.000 Menschen kommen in den Lagern um. Wenigen anderen gelingt es, zu entkommen und sich in den größeren Städten Syriens zu verstecken. Manche Autoren gehen sogar von deutlich höheren Opferzahlen aus.
„Ich wünsche, dass Sie die amerikanischen Lebensversicherungen anweisen, uns eine vollständige Liste der Armenier zu schicken, die bei Ihnen eine Police abgeschlossen haben. Sie sind so gut wie alle tot und haben keine Erben hinterlassen, die die Versicherungssumme kassieren könnten. Das Geld fällt selbstverständlich dem Staat zu.“
Innenminister Talat an Henry Morgenthau sen., den US-Botschafter im Osmanischen Reich
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Niederlage des Osmanischen Reiches drängen die siegreichen Westalliierten darauf, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Um günstigere Friedensbedingungen für seinen Staat zu erreichen, setzt der neue Sultan Mehmed VI. in Istanbul ein Sondertribunal ein, das 17 Funktionäre, Militärs und Politiker zum Tode verurteilt. Viele Türken reagieren empört auf diesen Richterspruch.
Nach dem überaus harten Friedensvertrag von Sèvres vom 10. August 1920, der das Reich zerschlägt und Teile Anatoliens den Griechen und Armeniern überlässt, entfällt jede Rücksicht auf die Alliierten – zumal sich wenig später die türkischen Nationalisten unter General Mustafa Kemal gegen die diktierte Friedensordnung erheben und die Griechen in mehreren Feldzügen besiegen. So werden nur drei Todesurteile tatsächlich vollstreckt. Und noch vor der Gründung der türkischen Republik verkündet Kemal am 31. März 1923 eine Amnestie für alle im Völkermord-Prozess Verurteilten.
Die drei Hauptverantwortlichen für den Genozid, Innenminister Talat, der Marineminister und Generalgouverneur von Syrien Cemal sowie Kriegsminister Enver, sind bereits 1918 ins Exil nach Deutschland geflüchtet.
Enver fällt wenige Jahre später im Kampf gegen die Rote Armee bei dem Versuch, die Turkvölker Zentralasiens zu einem Aufstand gegen die Herrschaft der Bolschewiki zu bewegen. Cemal und Talat werden von Armeniern im Zuge der Operation „Nemesis“ (Gerechtigkeit) erschossen.
Den Mörder Talats, der sein Attentat 1921 in Berlin verübt, spricht ein deutsches Gericht wegen Schuldunfähigkeit frei. Die türkische Regierung leugnet bis heute Ausmaß und Vorsatz der Massaker. Sie geht von viel geringeren Opferzahlen aus, die in den Kriegswirren bei notwendigen Umsiedlungen gestorben seien. Trotz aller Zeugnisse weigern sich die Offiziellen noch immer, den Massenmord an den Armeniern als Genozid anzuerkennen.
Aus dem per ÖVP-Amtsmissbräuche offenkundig verfassungswidrig agrar-ausgeraubten Tirol, vom friedlichen Widerstand, Klaus Schreiner
Don´t be part of the problem! Be part of the solution. Sei dabei! Gemeinsam sind wir stark und verändern unsere Welt! Wir sind die 99 %!
“Wer behauptet, man braucht keine Privatsphäre, weil man nichts zu verbergen hat, kann gleich sagen man braucht keine Redefreiheit weil man nichts zu sagen hat.“ Edward Snowden
PDF-Downloadmöglichkeit eines wichtigen sehr informativen Artikels über den amerikanischen Militärisch-industriellen-parlamentarischen-Medien Komplex – ein Handout für Interessierte Menschen, die um die wirtschaftlichen, militärischen, geopolitischen, geheimdienstlichen, politischen Zusammenhänge der US-Kriegsführungen samt US-Kriegspropaganda mehr Bescheid wissen wollen : Ursachen und Hauptantriebskräfte der US Kriege und Flüchtlinge der amerik. MIK (… auf Unterstrichenes drauf klicken 🙂 )