© Martin Juen
Wien. Gregor Gysis natürliches Habitat ist die Arena, bevorzugt in ihrer modernen Variante als Talkshow. Da kommen dem 69-jährigen Berliner seine Stärken zugute: Scharfer Intellekt, Wortwitz, Schlagfertigkeit, und er ist mit dem Selbstvertrauen gesegnet, das davon ausgeht, auf alle politischen Probleme eine einleuchtende Antwort parat zu haben. Ohne ihn hätte die Linkspartei wohl kaum den Übergang von der DDR-Einheitspartei zur politischen Fix-Größe des wiedervereinigten Deutschlands geschafft.
Die „Wiener Zeitung“ sprach mit Gysi über Österreich. Er weilte anlässlich eines Symposiums zum Nahostfrieden in Wien, organisiert von „transform!europe“, einem Verein zur Förderung linker Politik.
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Gregor Gysi
Geb. 1948 in Berlin ist der Jurist eine schillernde politische Figur. Als Anwalt verteidigte er – seit 1967 Mitglied der DDR-Einheitspartei SED – Systemkritiker. Er war letzter Parteichef der SED und Motor hinter deren Wandlung zur Linkspartei, die er drei Mal als Spitzenkandidat in den Bundestag führte. Seit 2017 ist er Chef der „Europäischen Linken“.
„Wiener Zeitung“: Herr Gysi, Sie sind bekannt dafür, auf fast alles eine Antwort samt Lösung zu haben: Können Sie kurz das Problem der Linken in Österreich lösen?
Gregor Gysi: Das Problem der Linken in Europa besteht darin, dass der Staatssozialismus gescheitert ist. Das hat die gesamte Linke in den Keller gezogen, auch die, die diesem Staatssozialismus distanziert gegenübergestanden sind. Die KPÖ war diesbezüglich schon früher in einer schwierigen Position, die man nicht mit der französischen oder italienischen Linken vergleichen kann. Das liegt auch daran, dass ein Teil des Landes nach 1945 von den Sowjets besetzt war, damit blieben Erfahrungen verbunden, die die antikommunistische Haltung aus der Nazizeit gestärkt haben.
Die Besatzungszeit vor 70 Jahren kann aber nicht erklären, warum seitdem nichts Neues nachkam.
Jetzt, das glaube ich jedenfalls, kommt etwas nach. Das ist ein positives Element einer eigentlich negativen Entwicklung, jedenfalls trifft das für Deutschland zu. Obwohl mich diese rechtspopulistischen Bewegungen wie Pegida und AfD ungemein stören, hat dies dazu geführt, dass junge Leute zur Linkspartei kommen.
An der Überalterung der Linkspartei ändert das nichts. In Österreich ist es auch so, dass die FPÖ unter Jungwählern stark abschneidet.
Auch in Deutschland gibt es Junge, die die AfD wählen, aber man muss unterscheiden. Da gibt es die Rassisten – an die ist nicht heranzukommen. Dann gibt es die, denen es eigentlich nicht schlecht geht, die aber finden, sie hätten öfters befördert werden müssen; die geben den etablierten Parteien die Schuld und wählen deshalb AfD. Die sozial Abgehängten machen mir am meisten Sorgen: Die sind zum größten Teil ins Lager der Nichtwähler abgewandert, merken jetzt aber, dass, wenn sie AfD wählen, sich alle anderen – von der Union über die Grünen bis hin zu uns – am meisten ärgern. Die wollen, dass wir uns ärgern; und ihre Hoffnung ist, dass dadurch ihre Probleme ins Scheinwerferlicht rücken.
Wissen Sie, in Österreich wie in Deutschland hat es immer ein gewisses Maß an Rassismus und Antisemitismus gegeben. Neu ist, die Offenheit, mit der das jetzt formuliert und gezeigt wird.
In Österreich folgte Christian Kern auf Werner Faymann, die SPD kämpft mit Sigmar Gabriel um eine Kanzler-Chance, in Italien hängt Matteo Renzis Schicksal in der Schwebe, Frankreichs „Parti Socialiste“ ist tief gespalten, in Großbritannien versucht Jeremy Corbyn einen Sonderweg: Wie bewerten Sie die Chancen einer Revitalisierung der Sozialdemokratie?
Ich wünsche sie mir jedenfalls. Nicht zuletzt im Hinblick auf die AfD haben wir folgendes Problem: Angela Merkel hat die Union sozialdemokratisiert, während Gerhard Schröder und seine Nachfolger die SPD entsozialdemokratisiert haben – mit dem Ergebnis, dass die Leute die beiden nicht mehr unterscheiden können. Deshalb muss die Union wieder konservativer werden, einfach weil es konservative Interessen und Wähler gibt – und wenn Merkel einzelne fortschrittliche Ideen umsetzt, muss sie ihre Konservativen mitnehmen. Wenn sie davon eine Million zurücklässt, dann gehen die zur AfD. Das will ich nicht, das sage ich Ihnen als Linker ganz offen.
Diese Logik wird aber von vielen nicht geteilt: Wenn Horst Seehofer für die CSU konservative Positionen hochhält, heißt es, dies befördere nur das Geschäft der AfD. Das Gleiche gilt auch für die ÖVP.
Dass ich die beschimpfe, finde ich völlig normal, weil die dürfen mich ja auch beschimpfen. Ich habe andere Interessen zu vertreten als die Union.
So gesehen wäre Seehofer Ihr Verbündeter im Kampf gegen die AfD?
Ich würde ihn natürlich beschimpfen, aber strategisch ist es seine Aufgabe, die Konservativen der Union zu integrieren und mitzunehmen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen SPD, Grüne und Linkspartei regieren und die Union in Opposition schicken. Und wir müssen dafür sorgen, dass die SPD wenigstens wieder so sozialdemokratisch wird, wie sie unter Willy Brandt schon war.
Was dann, wenn Ihr Traum von Rot-Rot-Grün in Erfüllung geht?
Dann müssen wir vier Sachen leisten: Erstens, für körperliche Sicherheit sorgen. Wir brauchen mehr Personal auf Bahnhöfen, in Zügen und Bussen. Kameras sind ganz nett, die erleichtern die Strafverfolgung, aber sie helfen nicht, Straftaten zu verhindern. Zweitens, Deutschland braucht einen sozialen Schub, wir haben den größten Niedriglohnsektor, wir haben Millionen in prekären Verhältnissen; drittens, mehr Steuergerechtigkeit; und, viertens, entscheidend ist, dass wir das gemeinsam mit dem Mittelstand schaffen. Wenn wir den verlieren, hat Rot-Rot-Grün keine Chance. Ich sage meinen Leuten immer: Wenn ihr wirklich die Rechte globaler Konzerne und Banken beschneiden wollt, dann geht das nur im Bündnis mit dem Mittelstand. Das ist die historische Aufgabe der vier Parteien.