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Die Welt wird immer besser
09.04.2018 · Alles wird immer schlimmer: Diesen Satz hören wir ständig. Und er ist grundfalsch. Der verstorbene schwedische Wissenschaftler Hans Rosling hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Fortschritt zu loben. Hier kommen 32 gute Botschaften, sein Vermächtnis. Ein Gastbeitrag.
Es wird alles immer schlimmer: Diese Aussage über die Welt höre ich öfter als jede andere. Es ist ein Megatrugschluss. Ja, es stimmt, dass es viele schlimme Dinge gibt auf der Welt. Die Zahl der Kriegstoten ist seit dem Zweiten Weltkrieg rückläufig, doch im Zuge des syrischen Bürgerkriegs hat sich der Trend wieder umgekehrt. Auch der Terrorismus nimmt zu. Die Überfischung und die Verschmutzung der Meere sind ernste Probleme. Die Listen der toten Zonen in den Ozeanen und der gefährdeten Meereslebewesen werden länger. Das Polareis schmilzt. Der Meeresspiegel wird in den nächsten 100 Jahren vermutlich um einen Meter ansteigen. Es besteht kein Zweifel, dass dies mit den Treibhausgasen zusammenhängt, die von den Menschen in die Atmosphäre abgegeben wurden und die sich für lange Zeit dort halten werden, auch wenn wir ihre Konzentration nicht weiter erhöhen.
Der Zusammenbruch des amerikanischen Immobilienmarkts 2007, den die Politik nicht vorhergesehen hatte, wurde durch den weitverbreiteten illusionären Glauben an die Sicherheit abstrakter Anlagen verursacht, die kaum jemand richtig verstand. Das System ist noch immer so komplex wie ehedem, und es kann wieder zu einer ähnlichen Krise kommen. Vielleicht schon morgen.
Um auf diesem Planeten finanzielle Stabilität, Frieden und den Schutz der natürlichen Ressourcen zu gewährleisten, bedarf es internationaler Zusammenarbeit, die auf einem gemeinsamen und faktengestützten Verständnis der Welt beruht. Das mangelhafte Wissen über die Welt, das so häufig anzutreffen ist, ist daher das beunruhigendste Problem von allen. Wir haben Menschen aus 30 verschiedenen Ländern die Frage gestellt: Glauben Sie, dass die Welt besser wird, schlimmer wird oder bleibt, wie sie ist? Stets urteilte eine absolute Mehrheit von mehr als 50 Prozent: Es wird immer schlimmer. Ob in der Türkei (wo die Lage besonders negativ beurteilt wurde), oder in Schweden und Deutschland. Kein Wunder, dass wir uns alle so gestresst fühlen.
Es ist leicht, all die schlimmen Dinge auf der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Schwieriger ist es, das Gute zu sehen: Über unzählige Verbesserungen wird nicht berichtet. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich spreche hier nicht von trivialen „positiven Nachrichten“, um gewissermaßen ein „Gegengewicht“ zum Negativen zu schaffen. Ich rede von grundlegenden Verbesserungen, die zu einer Veränderung der Welt führen, die aber zu langsam, zu fragmentiert oder für sich genommen zu wenig bedeutsam sind, um als berichtenswert eingestuft zu werden. Ich spreche vom heimlichen stillen Wunder des menschlichen Fortschritts. Solange die Menschen eine Weltsicht haben, die wesentlich negativer ist als die Wirklichkeit, können schon bloße statistische Daten dazu beitragen, ihre Stimmung aufzuhellen. Es ist tröstlich und auch inspirierend, zu erfahren, dass die Welt in Wirklichkeit besser ist, als man dachte. Eine neuartige Glückspille, völlig kostenlos online erhältlich!
Beginnen wir mit der Entwicklung der extremen Armut: Hat sich in den letzten 20 Jahren der Anteil der in extremer Armut lebenden Weltbevölkerung . . .
A: nahezu verdoppelt.
B: nicht verändert.
C: nahezu halbiert?
Die richtige Antwort ist C: Im Lauf der vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, nahezu halbiert. Im Jahr 1800 lebten ungefähr 85 Prozent der Menschen in extremer Armut. Überall auf der Welt hatten die Menschen schlicht nicht genügend zu essen. Die meisten Menschen mussten mehrmals im Jahr hungrig zu Bett gehen. In Großbritannien und seinen Kolonien mussten Kinder arbeiten, um essen zu können, und ein Kind trat in Großbritannien durchschnittlich mit zehn Jahren ins Arbeitsleben ein. Ein Fünftel der Einwohner Schwedens, darunter auch viele meiner Vorfahren, floh aufgrund von Hungersnöten in die Vereinigten Staaten, nur 20 Prozent von ihnen kehrten später wieder zurück. Was sollte man tun, wenn es eine Missernte gab und Angehörige, Freunde und Nachbarn starben? Man ging weg. Man wanderte aus. Wenn man konnte.
Die gesamte Menschheit hat auf dieser Stufe extremer Armut angefangen. Auf diesem Niveau lebte bis etwa 1966 die Mehrzahl der Menschen. Bis dahin war extreme Armut die Regel, nicht die Ausnahme. In den letzten 20 Jahre hat sich die extreme Armut schneller vermindert als in jeder anderen Phase der Weltgeschichte. 1997 lebten in China und Indien 42 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut. 2017 hatte sich dieser Anteil in Indien auf zwölf Prozent verringert: 270 Millionen Menschen weniger lebten in extremer Armut als 20 Jahre zuvor. In China reduzierte sich der Anteil der Bevölkerung, der in extremer Armut lebt, im gleichen Zeitraum auf unglaubliche 0,7 Prozent, was bedeutet, dass eine halbe Milliarde Menschen die niedrigste Stufe hinter sich gelassen haben. Lateinamerika senkte seinen Anteil von 14 Prozent auf vier Prozent: weitere 35 Millionen Menschen. Es stimmt schon, alle Schätzungen zu extremer Armut sind sehr unsicher, wenn sich jedoch solche Veränderungen zeigen, passiert unzweifelhaft etwas Großes.
Vor 20 Jahren lebten noch 29 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut. Heute beträgt dieser Anteil neun Prozent.
Wie alt waren Sie vor 20 Jahren? Schließen Sie für einen Moment die Augen, und erinnern Sie sich an die Zeit, als Sie noch jünger waren. Wie hat sich Ihre Welt seither verändert? Vor 20 Jahren lebten noch 29 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut. Heute beträgt dieser Anteil neun Prozent. Fast alle Menschen sind dieser Hölle entronnen. Die ursprüngliche Ursache für alles menschliche Leiden wird bald ausgemerzt sein. Wir sollten eine Feier planen! Eine große Feier! Und wenn ich sage „wir“, dann meine ich die Menschheit insgesamt!
Stattdessen blasen wir Trübsal. Auf unseren Fernsehschirmen sehen wir noch immer Menschen, die in extremer Armut leben, und es scheint, als hätte sich nichts verändert. Milliarden Menschen haben das Elend hinter sich gelassen und sind Konsumenten und Produzenten für den Weltmarkt geworden, Milliarden Menschen haben es geschafft aufzusteigen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als in Schweden Hunger herrschte und in Großbritannien Kinder in Kohlengruben arbeiteten, betrug die durchschnittliche Lebenserwartung auf der Welt insgesamt rund 30 Jahre. Auf diesem Niveau hatte sie auch während der gesamten bisherigen Geschichte gelegen. Von allen Kindern, die geboren wurden, starben ungefähr die Hälfte, bevor sie erwachsen wurden. Von jenen, die überlebten, starben die meisten im Alter zwischen 50 und 70 Jahren. Daraus ergab sich der Durchschnitt von etwa 30 Jahren. Heute liegt die durchschnittliche Lebenserwartung auf der Welt bei 70 Jahren. Genauer gesagt, sogar noch ein bisschen höher: bei 72 Jahren.
Der Trugschluss, dass die Zustände auf der Welt immer schlimmer werden, ist nur sehr schwer aufrechtzuerhalten, wenn man die Gegenwart in den historischen Kontext stellt. Wir sollten die Tragödien, die heute durch Dürreperioden und Hungersnöte verursacht werden, nicht herunterspielen. Doch das Wissen über die Tragödien der Vergangenheit sollte auch die Erkenntnis fördern, dass die Welt mittlerweile wesentlich transparenter geworden und auch wesentlich besser in der Lage ist, dort Hilfe zu leisten, wo es nötig ist.
Mein Heimatland Schweden gehört heute zu den reichsten und gesündesten Ländern der Welt. Aber das war nicht immer so. Das Schweden des Jahres 1948, in das ich hineingeboren wurde, stand in Bezug auf die Gesundheits- und Reichtumskarte der Welt dort, wo sich Ägypten heute befindet. Das heißt: In den 1950er Jahren ähnelten die Lebensbedingungen in Schweden jenen in Ägypten und anderen Ländern, die heute auf dieser Stufe stehen. Es gab noch immer offene Abwasserkanäle, und es war nicht ungewöhnlich, dass Kinder in Gewässern unweit ihres Wohnhauses ertranken. In Schweden haben sich die Verhältnisse während meiner Lebenszeit beständig verbessert.
Gehen wir nun etwas weiter in die Vergangenheit zurück. Als meine Mutter 1921 geboren wurde, stand Schweden auf einem ähnlichen Entwicklungsniveau wie heute Sambia. Meine Großmutter war gewissermaßen das Lesotho-Mitglied der Familie. Als sie 1891 auf die Welt kam, stand Schweden da, wo sich Lesotho heute befindet. Das ist das Land mit der kürzesten Lebenserwartung in der Welt. Meine Großmutter wusch die Wäsche ihrer neunköpfigen Familie mit der Hand. Aber als sie älter wurde, erlebte sie das Wunder der Entwicklung, als sowohl sie selbst als auch Schweden insgesamt aufstiegen. Am Ende ihres Lebens hatte sie einen Kaltwasserhahn im Haus und einen Latrinenbehälter im Keller: Das war Luxus im Vergleich zu ihrer Kindheit, in der es kein fließendes Wasser im Haus gegeben hatte. Alle meine vier Großeltern konnten schreiben und rechnen, doch keiner von ihnen besaß so viel Schulbildung, dass er oder sie zum Vergnügen Bücher las. Sie konnten mir keine Kinderbücher vorlesen und auch keinen Brief schreiben. Keiner von ihnen hatte mehr als vier Jahre Schule absolviert. In der Generation meiner Großeltern hatte Schweden das Bildungsniveau erreicht, über das Indien heute verfügt.
Meine Urgroßmutter wurde 1863 geboren, als das durchschnittliche Einkommensniveau Schwedens ungefähr jenem des heutigen Afghanistan entsprach, wo die Mehrzahl der Menschen in extremer Armut lebt. Meine Urgroßmutter wies ihre Tochter, meine Großmutter, immer wieder darauf hin, wie kalt der Lehmboden im Winter war. Heute aber leben die Menschen in Afghanistan und anderen Ländern, trotz extremer Armut, deutlich länger als die Schweden damals im Jahre 1863. Das hängt damit zusammen, dass grundlegende Modernisierungen die meisten Menschen auf der Welt erreicht und ihr Leben enorm verbessert haben. Sie besitzen Plastiktaschen, um Lebensmittel zu lagern und zu transportieren. Sie haben Plastikeimer, um Wasser zu befördern, und Seife, um Keime abzutöten. Die meisten ihrer Kinder sind geimpft. Im Durchschnitt leben sie 30 Jahre länger als die Schweden im Jahr 1800, als sich Schweden auf der Stufe extremer Armut befand. So sehr hat sich auch das Leben auf dieser Stufe verbessert. In allen Ländern der Welt ist die Lebenserwartung im Lauf der vergangenen 200 Jahre gestiegen. Tatsächlich haben sich in fast allen Ländern bei fast allen Kennziffern Verbesserungen eingestellt.
Wie kann jemand angesichts solch wunderbarer Statistiken noch behaupten, dass die Zustände auf der Welt immer schlimmer werden?
Wird die Welt, die Sie im Kopf haben, also wirklich immer schlimmer? Dann schauen Sie die 32 Dinge an, die sich verbessert haben. Dieser globale Fortschritt ist schwer wahrzunehmen, wenn man einfach nur aus dem Fenster schaut. Er vollzieht sich hinter dem Horizont. Doch es gibt einige Anzeichen, die man aufspüren kann, wenn man sorgfältig danach Ausschau hält. Hören Sie aufmerksam hin. Hören Sie ein Kind, das Gitarre oder Klavier spielt? Dieses Kind ist nicht ertrunken, es freut sich vielmehr seines Lebens und genießt die Freiheit, Musik zu machen. Das Ziel, ein höheres Einkommen zu erreichen, beschränkt sich nicht darauf, mehr Geld anzuhäufen. Das Ziel, länger zu leben, erschöpft sich nicht darin, einfach nur mehr Zeit zu bekommen.
Das übergeordnete Ziel besteht darin, die Freiheit zu haben, zu tun, was man möchte. Ich zum Beispiel liebe den Zirkus, spiele oft Computerspiele mit meinen Enkelkindern und zappe gern durch die Fernsehkanäle. Kultur und Freiheit, die Ziele der Entwicklung, lassen sich gewöhnlich nur schwer messen, aber die Anzahl der Gitarren pro Kopf ist ein guter Anzeiger. Und Mannomann, hier haben sich wirklich beträchtliche Verbesserungen vollzogen. Wie kann jemand angesichts solch wunderbarer Statistiken noch behaupten, dass die Zustände auf der Welt immer schlimmer werden?
Das hat zum großen Teil mit unserem Instinkt der Negativität zu tun, unserer Neigung, das Schlechte aufmerksamer wahrzunehmen als das Gute. Hier kommen drei Dinge zusammen: eine unzutreffende Erinnerung an die Vergangenheit, eine selektive Berichterstattung durch Journalisten und politische Aktivisten sowie das Gefühl, dass es hartherzig oder gewissenlos wäre, von Verbesserungen zu sprechen, solange es immer noch schlimme Dinge gibt.
Seit jeher verklären ältere Menschen ihre Jugendzeit und beharren darauf, dass alles nicht mehr so ist, wie es früher war. Nun, das stimmt, allerdings nicht in dem Sinne, wie sie es meinen. Die meisten Dinge waren früher schlechter, nicht besser. Doch Menschen fällt es sehr leicht, zu vergessen, wie etwas „wirklich war“.
In Westeuropa und in Nordamerika haben nur noch sehr alte Menschen, die den Zweiten Weltkrieg und die Zeit der Weltwirtschaftskrise erlebt haben, persönliche Erinnerungen an die Entbehrungen und die Not, die noch vor wenigen Jahrzehnten dort herrschten. Sogar in Indien und in China, wo extreme Armut noch vor zwei Generationen für die große Mehrheit der Bevölkerung Realität war, ist dies bei den meisten Menschen, die in schönen Häusern leben, saubere Kleidung haben und Mopeds fahren, mittlerweile in Vergessenheit geraten.
Aus irgendeinem Grund vermeiden wir es, uns selbst und unsere Kinder an die Nöte und die Grausamkeiten der Vergangenheit zu erinnern. Die Wahrheit findet sich auf alten Friedhöfen und Bestattungsorten, wo Archäologen sich daran gewöhnt haben zu sehen, dass ein Großteil der von ihnen ausgegrabenen sterblichen Überreste von Kindern stammt. Die meisten von ihnen sind wahrscheinlich an Hunger oder schlimmen Krankheiten gestorben, zahlreiche Kinderskelette tragen aber auch Merkmale von physischer Gewaltanwendung.
Berichte über langsame, allmähliche Verbesserungen schaffen es nur selten auf die Titelseiten, selbst wenn sie eine große Tragweite haben und Millionen Menschen betreffen.
Die Mordrate in Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften lag oft über zehn Prozent, und die Kinder wurden nicht verschont. Auf heutigen Friedhöfen dagegen sieht man nur noch selten Kindergräber.
Wir sind dafür einem Trommelfeuer negativer Nachrichten aus allen Teilen der Welt ausgesetzt: Kriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen, politische Fehlentscheidungen, Korruption, Haushaltskürzungen, Krankheiten, Massenentlassungen, Terroranschläge. Journalisten, die über Flüge berichten, die nicht mit einem Absturz enden, oder über Ernten, die nicht fehlschlagen, würden schnell ihren Job verlieren. Berichte über langsame, allmähliche Verbesserungen schaffen es nur selten auf die Titelseiten, selbst wenn sie eine große Tragweite haben und Millionen Menschen betreffen. Und dank zunehmender Pressefreiheit und der fortgeschrittenen Technologie erfahren wir heute mehr über Katastrophen als jemals vorher.
Als Europäer vor ein paar Jahrhunderten in Amerika Ureinwohner in großer Zahl umbrachten, fand diese Nachricht nicht den Weg zurück in die Alte Welt. Als die staatliche Planwirtschaft im ländlichen China zu einer Hungersnot führte, der Millionen Menschen zum Opfer fielen, wussten die jungen Leute, die in Europa zu dieser Zeit rote Fahnen schwenkten, nichts davon. Als in der Vergangenheit viele Arten ausgerottet und ganze Ökosysteme vernichtet wurden, nahm niemand Notiz davon oder sorgte sich deswegen. Im Gefolge aller anderen Verbesserungen hat auch unsere Aufmerksamkeit für das Leid stark zugenommen. Diese verbesserte Berichterstattung ist auch selbst ein Zeichen des menschlichen Fortschritts, erweckt jedoch genau den gegenteiligen Eindruck.
Zugleich gelingt es politischen Aktivisten und Lobbyisten, jeden kleineren Rückschlag in einer Entwicklung als das Ende der Welt erscheinen zu lassen, auch wenn sich der allgemeine Trend offensichtlich verbessert, und sie erschrecken das Publikum mit alarmistischen Übertreibungen und Prophezeiungen. So ist zum Beispiel in Amerika die Gewaltkriminalität seit den 1990er-Jahren im Rückgang. Im Jahr 1990 wurden knapp 14,5 Millionen Gewaltdelikte registriert. Im Jahr 2016 lag diese Zahl nur noch bei weit unter 9,5 Millionen. Jedes Mal, wenn etwas schrecklich Schockierendes passierte, also so gut wie jedes Jahr, war gleich von einer Krise die Rede. Die Mehrheit der Menschen befindet sich die meiste Zeit in dem Glauben, dass die Gewaltkriminalität immer schlimmer werden würde.
Es ist kein Wunder, dass wir in der Illusion ständiger Verschlechterung leben. Die Medien versorgen uns unablässig mit Berichten über schlimme Ereignisse in der Gegenwart. Diese Erwartung drohenden Unheils wird dann noch verstärkt durch unsere Unfähigkeit, uns an die Vergangenheit zu erinnern; wir sehen die Vergangenheit durch eine rosarote Brille und erinnern uns nicht mehr daran, dass es vor zehn Jahren oder vor 50 Jahren genauso viele schlimme Ereignisse gab, wahrscheinlich sogar mehr. Die Illusion der Verschlechterung ist für viele Menschen eine große Belastung und veranlasst andere, alle Hoffnung fahren zu lassen. Und das völlig grundlos.
Daneben vollzieht sich noch ein anderer Prozess. Was meinen die Menschen tatsächlich, wenn sie sagen, dass die Welt immer schlimmer werde? Ich vermute, diese Aussage entspringt nicht ihrem Denken, sondern ihrem Gefühl. Ich vermute, wenn ich Ihnen sage, dass die Welt besser wird, dann haben Sie das Gefühl, ich würde Ihnen einreden wollen, dass alles bestens ist oder Sie diesen Problemen keine Beachtung mehr schenken und so tun sollten, als gäbe es sie gar nicht. Und das erscheint lächerlich und verursacht Stress.
Ich gebe zu: Nicht alles ist gut. Wir haben weiterhin Grund, uns Sorgen zu machen. Solange es Flugzeugabstürze, vermeidbare Kindersterblichkeit, die Bedrohung von Arten, Leugner des Klimawandels, chauvinistische Männer, verrückte Diktatoren, Giftmüll und eingesperrte Journalisten gibt und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts keine Berufsausbildung machen dürfen, solange einige dieser schlimmen Dinge existieren, können wir uns nicht entspannt zurücklehnen.
Doch es ist ebenso lächerlich und ebenso belastend, einfach die Augen zu verschließen vor dem Fortschritt, der erzielt wurde. Oft nennen mich die Leute einen Optimisten, denn ich zeige ihnen die enormen Fortschritte auf, von denen sie nichts wissen.
Das ärgert mich. Ich bin kein Optimist. Das erschiene mir viel zu naiv. Ich bin ein sehr ernsthafter „Possibilist“. Das ist ein Begriff, der mir eingefallen ist. Er bezeichnet einen Menschen, der weder unbegründeten Hoffnungen anhängt noch sich durch unbegründete Befürchtungen ängstigen lässt, einen Menschen, der sich konstant der überdramatisierten Weltsicht widersetzt. Als Possibilist sehe ich all diese Verbesserungen und Fortschritte, und sie erfüllen mich mit Zuversicht und Hoffnung, dass weiterer Fortschritt möglich ist. Das ist nicht schlicht eine optimistische Einstellung.
Es bedeutet vielmehr, dass man eine klare und vernünftige Vorstellung von den Dingen hat. Dass man eine Weltsicht hat, die konstruktiv und hilfreich ist. Wenn Menschen irrtümlich annehmen, dass es keine Verbesserungen gebe, folgern sie daraus häufig auch, dass bislang nichts von dem, was wir versucht haben, geklappt hat, und verlieren das Vertrauen in die Maßnahmen, die tatsächlich wirkungsvoll sind. Ich begegne vielen dieser Leute, die mir erzählen, dass sie jede Hoffnung in die Menschheit aufgegeben haben. Manche radikalisieren sich auch und unterstützen drastische Lösungsvorschläge, die kontraproduktiv sind. Während in Wirklichkeit jene Methoden, die wir bereits anwenden zur Verbesserung der Welt, sehr gut funktionieren.
Nehmen wir zum Beispiel die Schulbildung von Mädchen. Die Mädchen in die Schule zu schicken hat sich als eine der besten Ideen der Welt erwiesen. Wenn Frauen eine schulische Bildung haben, geschehen in den Gesellschaften ganz wunderbare Dinge. Die Erwerbsbevölkerung wird vielfältiger, die Beschäftigten können bessere Entscheidungen treffen und mehr Probleme lösen. Mütter mit Schulbildung entscheiden sich, weniger Kinder zu haben, und von diesen wenigen Kindern werden mehr überleben.
In die Ausbildung eines Kindes können mehr Energie und Zeit investiert werden. Es ist ein positiver Kreislauf des Wandels. Arme Eltern, die es sich nicht leisten können, all ihre Kinder zur Schule zu schicken, haben früher häufig den Jungen den Vorzug gegeben. Doch in dieser Hinsicht sind seit 1970 enorme Fortschritte erzielt worden. Heute können fast alle Eltern, über alle Religionsgruppen, Kulturkreise und Kontinente hinweg, ihren Kindern den Schulbesuch ermöglichen. Die Mädchen haben mittlerweile aufgeschlossen: 90 Prozent der Mädchen im Grundschulalter besuchen die Schule. Bei Jungen beträgt dieser Anteil 92 Prozent. Hier besteht also fast kein Unterschied mehr.
Es gibt noch Geschlechterunterschiede in Bezug auf Bildung in den extrem armen Ländern, besonders hinsichtlich der weiterführenden Schulbildung und der Hochschulbildung, aber das ist kein Grund, die erzielten Fortschritte zu leugnen. Ich sehe keinen Widerspruch darin, wenn man diese Erfolge feiert und zugleich um weitere Verbesserungen kämpft.
Aus den Fortschritten, die wir erzielt haben, leite ich die Schlussfolgerung ab, dass es möglich ist, allen Mädchen und allen Jungen eine Schulbildung zuteil werden zu lassen, und dass wir uns bemühen sollten, dies Wirklichkeit werden zu lassen. Es wird nicht von selbst geschehen, und wenn wir die Hoffnung verlieren aufgrund törichter Trugschlüsse, wird es überhaupt nicht geschehen. Der Verlust der Hoffnung ist wahrscheinlich die schlimmste Konsequenz des Instinkts der Negativität und des Unwissens, das er hervorruft.
Wie können wir unserem Gehirn helfen zu erkennen, dass die Verhältnisse sich bessern, wenn alle Welt uns weiszumachen versucht, dass alles immer schlimmer wird? Die Lösung besteht nicht darin, sämtliche negativen Nachrichten durch positive Nachrichten auszugleichen. Dadurch würde man Gefahr laufen, einer bequemen, Selbsttäuschung fördernden und irreführenden Voreingenommenheit in die andere Richtung zu erliegen. Das wäre ebenso hilfreich wie der Versuch, zu viel Zucker durch mehr Salz auszugleichen. Dadurch wird das Gericht zwar pikanter, aber weniger bekömmlich. Für mich besteht eine Lösung darin, stets einen zweifachen Gedanken im Kopf zu haben.
Wenn jemand erklärt, dass sich die Zustände verbessern, meinen wir oft anscheinend, dass er damit auch ausdrücken möchte „Keine Sorge, entspannt euch“ oder „Schaut einfach weg“. Wenn ich aber darauf hinweise, dass sich die Dinge verbessern, habe ich nichts dergleichen im Sinn. Ich fordere keineswegs, den Blick abzuwenden von all den gravierenden Problemen auf der Welt. Ich sage nur, dass die Dinge zugleich schlecht und besser sein können.
Wenn wir an einer rosarot gefärbten Version der Geschichte festhalten, berauben wir uns selbst und unsere Kinder der Wahrheit.
Hilfreich bei dem Bemühen, den Instinkt der Negativität unter Kontrolle zu bekommen, kann es auch sein, wenn man grundsätzlich mit schlechten Nachrichten rechnet. Erinnern Sie sich, dass die Medien und politische Aktivisten stets durch Dramatisierung Ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen versuchen. Denken Sie daran, dass negative Geschichten wesentlich dramatischer klingen als neutrale oder positive. Erinnern Sie sich, wie einfach es ist, einen kurzfristigen Rückschlag aus dem Kontext einer langfristigen Verbesserung herauszulösen und eine Krisenerzählung zu konstruieren. Denken Sie daran, dass wir in einer vernetzten und transparenten Welt leben, in der über Not und Leid umfassender berichtet wird als jemals zuvor.
Wenn Sie von irgendwelchen schlimmen Dingen erfahren, beruhigen Sie sich, indem Sie sich die Frage stellen: Wenn es sich um eine vergleichbar wichtige positive Entwicklung handeln würde, würde ich dann auch davon erfahren haben? Und wenn es Hunderte wichtigerer Verbesserungen gegeben hätte, würde ich darüber ebenfalls informiert werden? Würde ich jemals etwas von Kindern gehört haben, die nicht ertrunken sind? Kann ich den Rückgang von Todesfällen durch Ertrinken bei Kindern oder von Tuberkuloseerkrankungen sehen, wenn ich aus dem Fenster schaue, erfahre ich davon in den Nachrichten oder dem Informationsmaterial von Wohltätigkeitsorganisationen?
Bedenken Sie stets, dass die positiven Veränderungen wahrscheinlich häufiger vorkommen, aber nicht bis zu Ihnen durchdringen. Sie müssen sie selbst aufspüren. Diese Gedanken sollen Sie mit einem Grundschutz ausstatten, der es Ihnen und Ihren Kindern ermöglicht, die Nachrichten anzuschauen, ohne sich ständig in eine Weltuntergangsstimmung hineintreiben zu lassen.
Zensieren Sie die Geschichte nicht: Wenn wir an einer rosarot gefärbten Version der Geschichte festhalten, berauben wir uns selbst und unsere Kinder der Wahrheit. Die Informationen über die schreckliche Vergangenheit erzeugen Angst, aber das ist eine wichtige Ressource. Sie kann uns dabei helfen, wertzuschätzen, was wir heute haben, und uns die Hoffnung verleihen, dass künftige Generationen, ebenso wie die vorhergehenden, die Rückschläge überwinden und auf dem langfristigen Weg zu Frieden und Wohlstand und zur Lösung unserer globalen Probleme weiter voranschreiten werden.
Hans Rosling (1948 bis 2017)
war Professor für Internationale Gesundheit in Stockholm. Der Text, zusammen mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter verfasst, ist sein Vermächtnis.
Hans Rosling mit Anna Rosling Rönnlund und Ola Rosling:
Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist.
Ullstein-Verlag, Berlin, 2018, 24 Euro.