Aus dieser Quelle zur weiteren Verbreitung entnommen: https://www.feinschwarz.net/das-virus-in-uns/?fbclid=IwAR2MQonKTrr7GqsyIqTbO_oHWk_ixGOuZgYyRzKhQvbW82cZ6V27TzFEX2M
Das Virus in uns
Sehen wir den möglichen Umwälzungen unseres Lebens durch die aktuelle Krise ins Auge? Ein Beitrag aus London, von Howard Cooper, Rabbiner und Psychotherapeut.
„Man kann wohl sagen, dass von diesem Moment an die Pest uns alle betraf. Bis dahin war jeder unserer Mitbürger, trotz der Überraschung und Besorgnis, die diese beispiellosen Ereignisse für alle mit sich gebracht hatten, an seinem gewohnten Platz seiner Tätigkeit nachgegangen, so gut er konnte. Und zweifellos sollte das so weitergehen. Aber als die Tore auf einmal geschlossen waren, merkten sie, dass sie alle, auch der Erzähler, im selben Sack[1] saßen und sich damit abfinden mussten.“ (Albert Camus, Die Pest, 1947)
Als ob wir das vorher nicht gewusst hätten, dass wir alle im selben Sack, im selben Boot sitzen: Planet Erde. Aber die Ankunft von Covid-19 hat uns ein neues Bewusstsein unserer Verbundenheit miteinander und mit allen Formen des Lebens auf der Erde aufgezwungen.
Auch wenn wir noch keine Überträger von Covid-19 sind, tragen wir doch alle dieses Virus. Denn das Virus ist in uns, in unseren Köpfen. Wir tragen es in unseren Gedanken, es vermehrt sich und mutiert in uns. Niemand kann ihm entkommen, es kontaminiert unser Wohlbefinden. Es löst Angst aus, Panik, Sorge um unsere Lieben, Sorge um unsere Gesundheit, Sorge um unseren Lebensunterhalt, manchmal auch Sorge um unser Leben.
Das Virus ist in uns, in unseren Köpfen.
Wir ringen darum, die neuen Lebensbedingungen zu verstehen: stornierter Urlaub, abgesagte Reisen, verschobene Meetings, durchkreuzte Pläne, aufgefüllte Vorräte, Selbstisolierung, „social distancing“, Furcht vor der Zukunft in der Ahnung, die dies gerade erst der Beginn ist.
Ich spüre, dass meine Gedanken zwischen zwei Polen hin- und herschwanken. Die eine Seite ist, dass dies – wie der wohltemperierte Tonfall der offiziellen wissenschaftlichen Anführer, die uns täglich auf unseren UK Bildschirmen vorgeführt werden, besonnen portraitiert – eine unangenehme, aber vorübergehende Gesundheitskrise ist, die das Land sehr gut bewältigen wird, wenn die Öffentlichkeit die angemessenen Vorkehrungen einhält. Obwohl es wenig beruhigend ist, wenn diese Vorkehrungen – an einem Tag besänftigend und rational präsentiert – nahtlos in andere, ebenso besänftigend und rational präsentierte Vorkehrungen am nächsten Tag übergehen. Wie Zauberer, deren Fähigkeit darin besteht, dich nicht sehen zu lassen, wie der Trick funktioniert, präsentieren die offiziellen TV-Gesichter der wissenschaftlichen Expertise ihr magisches Denken mit aufrichtigem und ernstem Elan.
andere, ebenso besänftigend und rational präsentierte Vorkehrungen am nächsten Tag
Der zweite Pol meiner Gedanken – und wie gesagt, sie oszillieren zwischen diesen beiden – enthält etliche dunkle, flüchtige Einblicke in eine Welt, die völlig aus den Fugen gebogen wird durch die Folgen dieser Seuche. Der Zusammenbruch der Aktienmärkte könnte eine Präfiguration eines radikalen Wandels unserer sozialen, ökonomischen und politischen Realitäten sein. Dieses Ereignis globaler Pandemie, das eben erst begonnen hat, könnte dieses Jahrhundert in einer Weise kennzeichnen, die mit dem ersten Weltkrieg vergleichbar ist. Dem Ersten Weltkrieg, der ein Jahrhundert tiefster Entwurzelung, Kriegen, Revolutionen und Leiden eingeleitet hat.
Natürlich ist das nicht die ganze Geschichte, aber – bewusst oder unbewusst – tragen wir die Erinnerung der Dramata des 20. Jahrhunderts in unserer Psyche. Die Menschheit hat in den Abgrund geschaut – die Zerstörung von Völkern, Städten, der Natur – und der Abgrund ist immer noch da, auch wenn wir wegschauen. Hiroshima, Auschwitz und die Umweltzerstörungen des Anthropozäns sind Hinweise auf die Kluft. Sie sind das tödliche Loch im Herzen der Menschheit.
Wir tragen die Erinnerung der Traumata des 20. Jahrhunderts in unserer Psyche.
Wenn Grenzen schließen, Unternehmen untergehen, Renten sich verringern, Essensvorräte sich verkleiner, sozialer Kontakt beschränkt wird, kann kein Ausmaß von Online-Aktivität (für die, die sich diesen leisten können) die Verluste unserer für selbstverständlich gehaltenen Lebensweisen kompensieren. Die Regierungen betonen die relativ befristete Natur der Maßnahmen, die sie „vorschlagen“. Wenige Wochen, wenige Monate. Das soll uns beruhigen. Ich bin ich nicht beruhigt.
Im Vereinigten Königreich wurden wir in der letzten Dekade durch Austerity-Sadismus angegriffen und von Brexit-Antagonismus zerissen – Covid-19 könnte daher durchaus „die Menschen zusammenbringen“, wie sie sagen, in der Einsicht, dass wir tatsächlich alle „im selben Boot“ sitzen. Aber das psychische Wohlbefinden Großbritanniens ist in keinem guten Zustand, es ist tatsächlich eher fragil: man kann die Aggressionen, den Rassismus, den unverhüllten Hass unter der Oberfläche schimmern sehen und wie sie online oder öffentlich ausbrechen. Wie gut sind wir als Nation darauf vorbereitet, Empfehlungen zu etwas wie Selbstisolierung und Distanzierung zu folgen, etwas, das wir tun „sollten“? Wie schnell wird ein viel drakonischerer Ansatz implementiert werden? Und wie werden wir dann abschneiden?
Wie gut ist unser soziales Gewebe für diese Entscheidungen gerüstet?
Wenn Ärzt*innen qualvolle Entscheidungen treffen müssen, wem geholfen wird und wem nicht – und damit, wie in den alten Göttergeschichten, darüber entscheiden, wer leben und wer sterben wird –, wie gut sind wir und unser soziales Gewebe ausgerüstet, dieser Verheerung unseres Sinnes für Fairness und Gerechtigkeit standzuhalten?
Wir sind den Ereignissen, die sich tagtäglich weiterentwickeln, noch viel zu nah, um irgendeine Klarheit zu haben, was der Virus mit uns, als Individuen, Familien, Gemeinschaften, Nationen, machen wird. Wir haben keine Position außerhalb der Ereignisse, aus der wir darauf schauen könnten. Manche sagen, dass diese Krise uns zeigen wird, welch radikalen Unterschied gemeinsames und gemeinschaftliches Handeln für das Verhalten in einer Gesellschaft zeitigen kann – ein Zeichen, dass die Klima-Katastrophe durch unmittelbare, radikale Veränderung des Verhaltens überwunden werden kann, wenn der Wille dafür da ist und die Welt zusammen arbeitet um das Desaster abzuwenden. Greta Thunbergs Botschaft ist voll und ganz angekommen.
Radikale Verhaltensänderung, wenn der Wille dafür da ist.
Ich habe keine Ahnung, welcher der beiden Pole meines Nachdenkens am Ende eher ins Schwarze trifft. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass diese Ereignisse – die, wie gesagt, ja nur der Beginn sind – zu tiefgreifenden, aber noch unvorhersehbaren Veränderungen unserer Lebensmuster führen werden.
Währenddessen versuche ich, meine Arbeit fortzusetzen, meine Beziehungen, mein Nachdenken über die Dinge, mit so viel Kontinuität wie möglich. Aber ich hadere mit den vorherrschenden Narrativen. Das mag tollkühn sein, aber so ist es. Zum Beispiel schrieb ich einem Kollegen diese Woche: „In diesen angespannten Zeiten, in denen der Impuls, dem wir folgen sollen, der ist, uns selbst zu isolieren, ’soziale Distanz‘ zu kreieren, nehme ich die kontraintuitive Haltung ein, dass wir so viel lebendigen Kontakt zwischen Menschen aufrecht erhalten sollten, wie möglich ist – für unser eigenes emotionales und mentales Wohlergehen. Denn unser inneres psychologisches und spirituelles Wohlergehen ist eine mächtige (wenn auch nicht allmächtige) Vorsorge für die Sicherung unseres physischen Wohlergehens. Wir wissen, dass guter menschlicher Kontakt heilende und manchmal auch präventive Wirkung auf unser physisches Wohl hat und wir sollten die Weisheit dieses Wissens auch in der gegenwärtigen ‚Krise‘ nicht preisgeben.“
Portait des Muts und des Egoismus‘ von Menschen im Angesicht von gravierenden Beeinträchtigungen
Am Ende seiner eindringlichen Beschreibung einer Stadt, die mit Seuche lebt und in Isolation gezwungen wird – “Die Pest” ist eine Metapher für die deutsche Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg, aber auch ein universales Portait des Muts und des Egoismus‘ von Menschen im Angesicht von gravierenden Beeinträchtigungen für die Kontinuität ihres Lebens und Wohlergehens – schreibt Camus über das Ende der Seuche: „Während Rieux [der Arzt, der die Kranken unabhängig von der Gefährdung seines eigenen Lebens behandelt] den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt aufstiegen, erinnerte er sich nämlich daran, dass diese Freude immer bedroht war. Denn er wusste, was dieser Menge im Freudentaumel unbekannt war und was man in Büchern lesen kann, daß nämlich der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet, daß er jahrzehntelang in den Möbeln und in der Wäsche schlummern kann , daß er in Zimmern, Kellern, Koffern, Taschentüchern und Papieren geduldig wartet…“
Ich wünsche euch eine sichere Passage in diesen belagerten Zeiten.
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Howard Cooper ist Psychotherapeut und Rabbiner in der Finchley Reform Synagogue in London. Der Beitrag erschien am 18.3. in Englisch auf seinem Blog.
Bild: Edmund Evans, „Bring Out Your Dead“, A street during the Great Plague in London, 1665, Quelle: Wikimedia Commons
Übersetzung: Kerstin Menzel