Palliativmediziner zu COVID-19-Behandlungen „Sehr falsche Prioritäten gesetzt und alle ethischen Prinzipien verletzt“ …. „Also von daher gibt es schon deutliche Hinweise, dass da Geld eine Rolle spielt, und wir wissen ja alle, dass Beatmungsmedizin extrem gut vergütet wird, da wird ein Tag zum Beispiel über 24 Stunden Beatmung teilweise mit über 20.000 Euro vergütet.“

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Palliativmediziner zu COVID-19-Behandlungen„Sehr falsche Prioritäten gesetzt und alle ethischen Prinzipien verletzt“

Der Palliativmediziner Matthias Thöns hat eine „sehr einseitige Ausrichtung auf die Intensivbehandlung“ von Patienten in der Coronakrise kritisiert. Er plädiert für eine bessere Aufklärung. Eine Intensivtherapie sei leidvoll und das Verhältnis zwischen Nutzen und Schaden stimme kaum.

Matthias Thöns im Gespräch mit Peter Sawicki

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Matthias Thöns, Palliativmediziner, aufgenommen in seiner Praxis (dpa / Bernd Thissen)

Der Palliativmediziner Matthias Thöns plädiert für eine bessere Aufklärung, was eine intensivmedizinische Behandlung für Folgen haben kann (dpa / Bernd Thissen)

Es gibt Fachleute, die diese Ausrichtung auf die Intensivbehandlung von Corona-Patienten kritisch sehen, und die vor ethischen Problemen warnen. Einer von ihnen ist Matthias Thöns, er ist Facharzt für Notfall- und Palliativmedizin in Witten in Nordrhein-Westfalen. Er hält die Ausrichtung der Politik auf die Intensivbehandlung von COVID-19-Erkrankten für einseitig.

Peter Sawicki: Herr Thöns, Sie sagen, dass eine ethische Katastrophe in Sicht ist. Was genau meinen Sie damit?

Matthias Thöns: Na ja, die Politik hat jetzt eine sehr einseitige Ausrichtung auf die Intensivbehandlung, auf das Kaufen neuer Beatmungsgeräte, auf Ausloben von Intensivbetten. Und wir müssen ja bedenken, dass es sich bei den schwer erkrankten COVID-19-Betroffenen, so nennt man ja die Erkrankung, meistens um hochaltrige, vielfach erkrankte Menschen handelt, 40 Prozent von denen kommen schwerstpflegebedürftig aus Pflegeheimen, und in Italien sind von 2.003 Todesfällen nur drei Patienten ohne schwere Vorerkrankungen gewesen. Also es ist eine Gruppe, die üblicherweise und bislang immer mehr Palliativmedizin bekommen hat als Intensivmedizin, und jetzt wird so eine neue Erkrankung diagnostiziert und da macht man aus diesen ganzen Patienten Intensivpatienten.

„Es werden alle ethischen Prinzipien verletzt, die wir so kennen“

Sawicki: Werden da also falsche Prioritäten gesetzt?

Thöns: Ich sehe, das sind sehr falsche Prioritäten und es werden ja auch alle ethischen Prinzipien verletzt, die wir so kennen. Also wir sollen als Ärzte ja mehr nutzen als schaden. Da fragt man sich natürlich bei einer Erkrankung, wenn die schlimm verläuft, also zum Atemversagen führt, dann können wir tatsächlich nach einer chinesischen Studie nur drei Prozent der Betroffenen retten, 97 Prozent versterben trotz Maximaltherapie – so eine Intensivtherapie ist leidvoll, da stimmt ja schon das Verhältnis zwischen Nutzen und Schaden kaum.

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Leere Straßen, leere Züge. Kneipen, Restaurants, Theater und Kinos. Ein Virus hält Europa und die ganze Welt im Griff. Die Rede ist nicht von heute, sondern vom Herbst 1918. Nach dem ersten Weltkrieg wütete weltweit die sogenannte Spanische Grippe.

Sawicki: Was meinen Sie damit?

Thöns: Na ja, der Nutzen ist so, dass man nur ganz minimal wenige Patienten rettet, von denen kommen nur wenige dann auch zurück in ihr altes Leben, eine große Zahl von denen, die man rettet, nach zwei bis drei Wochen Beatmung, verbleiben schwerstbehindert. Und das sind Zustände, die lehnen die meisten älteren Menschen für sich ab. Also Eingriffe, die mit dem hohen Risiko einer bleibenden Schwerbehinderung einhergehen, die lehnen ältere Menschen eigentlich ab. Deshalb erreicht man eigentlich Therapieziele für diese Patienten nicht, das heißt, die Indikation ist schon fraglich.

Jetzt wissen wir aber, dass ganz viele Menschen, wie gesagt, so eine Behandlung ablehnen, ältere Menschen, also die ist auch gegen den Willen. Und das Prinzip Gerechtigkeit ist ja auch ein wichtiges, ethisches Prinzip, da gibt es einmal diese Problematik, dass wir natürlich eine begrenzte Zahl an Intensivbetten haben und wir irgendwann die Entscheidung treffen müssen, wird da jetzt ein hochaltriger Patient kaum mit Rettungschancen weiterbeatmet oder eben der junge Familienvater nach einem Verkehrsunfall oder einem Herzinfarkt. Das ist eine schwierige ethische Entscheidung. Aber es wird ja auch anders kommen, denn durch intensivmedizinische Maßnahmen, also Intubation, Beatmung, gefährden wir Medizinpersonal in hohem Maße. 100 italienische Ärzte sind gestorben. Und wenn man das mal so hochrechnet, dann rechnet man ja praktisch die Rettung eines Menschen, der kaum zu retten ist und der das meistens nicht will, gegen die tatsächliche und wirklich bestehende Gefährdung von medizinischem Personal, die ja zu Hauf leider sterben bei diesen intensivmedizinischen Prozeduren.

Coronavirus (Imago/Rob Engelaar/Hollandse Hoogte)Alle Beiträge zum Thema Coronavirus (Imago/Rob Engelaar/Hollandse Hoogte)

Sawicki: Das sind ja jetzt sehr verschiedene Aspekte, die Sie genannt haben. Letzteres ist ja auch eine Frage der Schutzkleidung, das ist ja noch mal ein gesondertes Thema möglicherweise. Aber lassen Sie mich noch mal kurz zum Anfang dessen zurückkommen, was Sie gesagt haben, dass da, so wie Sie das formulieren, ich fasse das mal kurz zusammen, dass da der Aufwand zu groß ist, dass da die falsche Prioritätensetzung vorhanden ist. Muss es aber nicht umgekehrt das Ziel sein, die Devise sein einer verantwortungsvollen Regierung, so viele Menschen zu retten wie möglich, vor allem, wenn ein neues Virus auftritt, das man noch gar nicht richtig kennt?

Thöns: Völlig klar müssen wir so viele Menschen retten – mit von den Menschen gewollten Maßnahmen – wie möglich.

„Der Wille geht über die Indikation“

Sawicki: Ja, wenn ich da noch einhaken darf, woher wissen Sie denn, dass die Menschen oder dass eine bestimmte Zahl von Menschen diese Intensivbehandlung ablehnt? Was für Erhebungen haben Sie da?

Thöns: Also da gibt es einmal eine Untersuchung, dass 91 Prozent der Befragten Maßnahmen ablehnen würden, die mit dem hohen Risiko einer Behinderung einhergehen. Und tatsächlich ist es ja so, dass die Uniklinik Aachen jetzt erste Daten herausgegeben hat, und die Haupttodesursache war da tatsächlich in dieser Untersuchung, kleinen Untersuchung, dass die Patienten die Beatmung selber abgelehnt haben, wohl wissend, dass sie dadurch sterben können.

Sawicki: Und wie ist man dann damit umgegangen?

Thöns: Ja, die sind gestorben, die Patienten tatsächlich. Der Wille geht ja über die Indikation.

Sawicki: Gut, das heißt ja also, dass die Richtlinien, dass die Vorgaben ja gegeben sind, dass man sie beachtet.

Ein Patient liegt während seines Aufenthalt im Krankenhaus Großhadern in einem Intensivzimmer an einem Beatmungsgerät und einem Dialysegerät.   (dpa / Peter Kneffel)Intensivmedizin im Krankenhaus (dpa / Peter Kneffel)

Thöns: Ja, in der Uniklinik Aachen sind die beachtet worden. Ich bin aber so ein bisschen im Zweifel, dass das überall so sein wird. Wir wissen ja aus vielen Untersuchungen, dass die Beatmungszahlen in Deutschland explosionsartig zunehmen, und aus anderen Untersuchungen wissen wir, dass diese Willensermittlung nur bei vier Prozent der Beatmeten stattfindet. Das heißt, diese tollen Zahlen aus Aachen, sage ich mal, wo man den Willen beachtet hat, da möchte ich meine Hand nicht für ins Feuer legen, dass das überall so geschieht, insbesondere, wenn jetzt viele Betten leer sind und schon die ersten Kliniken über Unwirtschaftlichkeit klagen und Kurzarbeit anmelden.

Thöns: Geld spielt bei der Intensivmedizin eine Rolle

Sawicki: Also glauben Sie, dass da Geldgier eine Rolle spielen könnte? Würde man so weit gehen, auch unnötigerweise Intensivmedizin aus Geldgier, zugespitzt formuliert, anzuwenden?

Thöns: Na ja, das möchte ich ja jetzt keinem so direkt unterstellen, aber in der Vergangenheit hat sich schon gezeigt, dass sich die hochpreisige Intensivmedizin in einen Bereich ausgedehnt hat, wo das die meisten Menschen für sich nicht wollen, und wir wissen aus Befragungen, dass Patientenverfügungen, die das relativ eindeutig ausschließen, oftmals nicht beachtet wurden.

Also von daher gibt es schon deutliche Hinweise, dass da Geld eine Rolle spielt, und wir wissen ja alle, dass Beatmungsmedizin extrem gut vergütet wird, da wird ein Tag zum Beispiel über 24 Stunden Beatmung teilweise mit über 20.000 Euro vergütet.

Sawicki: Aber gleichzeitig werden ja auch viele andere Operationen aufgeschoben oder wurden aufgeschoben, die ja zum Teil auch eben die Krankenhäuser Geld kosten. Also gleicht sich das an der Stelle nicht wieder aus, wenn man jetzt mal auf den finanziellen Aspekt nur schaut?

Thöns: Auf den finanziellen Aspekt haben Sie natürlich recht, aber ethisch ist es natürlich eine Katastrophe, wenn man meint, jetzt Verluste durch die Einsparungen elektiver Operationen im Moment damit auszugleichen, dass man Menschen beatmet.

Sawicki: Gut, das wollen wir jetzt niemandem unterstellen, aber jetzt, wenn man so eine Rechnung macht. Nein, gut. Aber bleiben wir trotzdem da noch mal bei der Frage, ob das dann die richtige Prioritätensetzung ist oder nicht. Wenn Sie sagen, das ist nicht die richtige Prioritätensetzung, warum hat das die Bundesregierung dann getan?

Thöns: Na ja, das ist ja so eine Ausrichtung, die weltweit da ist. Dass man glaubt, wenn man nur mehr Geld in das System steckt und mehr Beatmungsbetten anlegt, dass man diese Krise managt. Das ist einfach in meinen Augen falsch. Ich glaube, wir müssen aufpassen auf die Patienten, die in Pflegeheimen leben, die müssen wir gut schützen, wir müssen aufpassen, dass wir da den Virus nicht einschleppen, also sind diese Maßnahmen im Prinzip alle sinnvoll, die im Moment laufen, wir müssen auf die Hygiene achten, sie müssen Schutzmasken tragen, die Schwestern, Schwestern müssen mehr getestet werden.

„Kein Mensch muss heute mehr ersticken“

Sawicki: Kontakteinschränkungen sind sinnvoll aus Ihrer Sicht, diese Maßnahmen?

Thöns: In dem Fall mit Sicherheit. Ja, es gibt ja noch viele weitere Dinge, die man machen muss. Ich kritisiere ja nicht nur. Man muss natürlich gucken, dass die Leute nicht ersticken, man muss die natürlich vernünftig palliativmedizinisch behandeln. Atemnot zu lindern ist für einen Palliativmediziner, wie ich es bin, eben total simpel, das ist einfach möglich. Kein Mensch muss heute mehr ersticken. Also wir müssen die Menschen nicht beatmen, damit die nicht ersticken, sondern Palliativmedizin kann das sehr leidlos gestalten. Wir müssen Maßnahmen gegen die Einsamkeit machen, wir müssen die Leute jetzt fragen, was wollen sie denn, wollen sie überhaupt die Maximalmedizin? Es wäre doch viel besser, wenn man jetzt die Menschen fragt, statt in 14 Tagen, wenn die Welle kommt, auf einmal so eine Alterstriage wie in Italien oder Spanien einführen zu müssen. Das wäre doch eine Katastrophe.

Sawicki: Ist Ihr persönlicher Eindruck auch aus Ihrem Arbeitsalltag, dass das nicht geschieht, dass man zu wenig mit Patienten, mit potenziellen Risikopersonen darüber spricht?

Thöns: Leider ja, leider spricht man viel zu wenig darüber, und auf die Idee, mit der ich jetzt schon seit vier Wochen …

„Wir müssen dringend mit den Leuten sprechen, was sie denn wollen“

Sawicki: Ist das auch Ihr Eindruck, also erleben Sie das so?

Thöns: Das ist mein Eindruck, ja, genau. Man spricht zu wenig. Ich versuche ja seit vier Wochen, Patientenverfügungen so ein bisschen in die Denke reinzubekommen, und jetzt haben die sieben Fachgesellschaften eben auch gesagt, ja, das ist wichtig, wir müssen dringend mit den Leuten sprechen, was sie denn wollen, denn bislang haben nur 30 Prozent der Pflegeheimbewohner eine Patientenverfügung.

Sawicki: Das heißt, was sollte man stattdessen tun jetzt in den kommenden Wochen?

Thöns: Ja, man sollte die Patienten tatsächlich ehrlich aufklären, dass Intensivmedizin nur mit minimalen Rettungschancen bei hoher Leidenslast durch die Intensivmedizin einhergeht, und fragen, möchten Sie das so, möchten Sie isoliert von Ihrer Familie, getrennt, die nicht mehr sehen, am Lebensende beatmet auf einer Intensivstation liegen, oder möchten Sie vielleicht doch lieber mit dem Risiko, dass Sie das nicht überleben, zu Hause bleiben, gut leidensgelindert? Und ich sage Ihnen, die meisten alten Menschen werden diesen zweiten Weg gehen, wenn man denen das ehrlich sagt.

Sawicki: Sie haben auch gesagt, Maßnahmen gegen Einsamkeit sollte man einleiten. Das betrifft ja derzeit eben viele Menschen, die in Pflegeheimen sind, nicht besucht werden dürfen, möglicherweise gar nicht beim Sterben begleitet werden können derzeit, wenn sie denn im Pflegeheim dann bleiben. Wie kann man dieses Dilemma auflösen sinnvollerweise?

Thöns: Das Dilemma ist ja weitgehend schon dadurch aufgelöst, dass man ja die Sonderregelung hat: Menschen, die im Sterben liegen in Pflegeheimen, dürfen Besuch bekommen. Das heißt, im Pflegeheim sind sie zumindest nicht mehr von ihrer Familie getrennt, wenn sie sich für Palliativversorgung entscheiden. Auf der Intensivstation bleiben sie getrennt.

Sawicki: Was haben Sie dahingehend für Ideen?

Thöns: Ja, also weitere Ideen sind natürlich jetzt für die Menschen, die noch nicht im Sterben liegen, dass man dann, sage ich mal so, Telefonkontakte mehr ausdehnt, dass man Videotelefonie mehr ausdehnt, dass man vielleicht auch Ehrenamtliche sucht, die mit den alten Menschen Telefonate führen. Das, glaube ich, ist sehr sinnvoll.

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Sawicki: Gibt es in einer Krise, in einer Pandemie einwandfreies ethisches Handeln?

Thöns: Ja, wir versuchen das ja zumindest. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensivmedizin hat ja Rahmenbedingungen für diese schwierigen Triageentscheidungen auf den Intensivstationen veröffentlicht. Die sind ja ethisch schon ganz gut, muss man sagen, dass man eben nach Überlebenswahrscheinlichkeit dann einteilt.

Besser wäre natürlich, klar, wenn man von vornherein nur die Patienten mit dem Rettungsdienst in die Klinik bringt, die auch Intensivmedizin wollen. Und deshalb wäre die Entscheidung viel früher noch viel besser.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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